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Der Libanon, ein Land am Abgrund

Im Libanon, einst als „Schweiz des Orients“ gerühmt, braucht es mittlerweile Suppenküchen.
Libanon, Trauerfeier für Hisbollah-Kommandeur Talib Sami Abdallah in Beirut
Foto: IMAGO/Marwan Naamani (www.imago-images.de) | Groß zelebrierte die Hisbollah in der Vorwoche in der libanesischen Hauptstadt Beirut die Trauerfeiern für ihren Kommandeur Talib Sami Abdallah, der bei einem gezielten israelischen Militärschlag ums Leben kam.

Im Kloster der Karmeliten im Beiruter Stadtteil Hazmieh sitzt Pater Raymond Abdo vom Orden der Karmeliten einer kleinen Delegation vom Hilfswerk Initiative Christlicher Orient (ICO) gegenüber und beschreibt gestenreich die katastrophale Situation in seinem Heimatland, das seit 2019 von der schwersten Wirtschaftskrise seiner Geschichte heimgesucht wird. Pater Abdo war bis vor kurzem Provinzial der Karmeliten im Nahen Osten und leitet aktuell die Schule Mar Doumit des Ordens in der Ortschaft Kobayat im Nordlibanon. Die Karmeliten führen im Libanon drei Schulen, alle im Norden des Landes: in Tripolis, in Mejlaya sowie eben in Kobayat.

Die Schule leidet unter der Inflation

Alle drei Schulen zusammen zählen 3.000 Schüler und 300 Lehrkräfte. Die von der ICO im Rahmen ihrer Schulgeld-Aktion unterstützte Schule Mar Doumit besuchen derzeit 719 Kinder, davon sind 200 Muslime. Nur 20 Prozent der Eltern können das vorgeschriebene Schulgeld bezahlen. Die Regierung habe gerade erst die der Schule zustehenden Subventionen für das Schuljahr 2018/19 ausbezahlt, sagt er. Vor der Krise hätte dieser Betrag 300.000 US-Dollar ausgemacht, eine nicht unbeträchtliche Summe. Heute – aufgrund der extremen Inflation – reicht der Betrag gerade einmal aus, um 20 Prozent eines Monatsgehalts eines Arbeiters zu bezahlen, wie Pater Abdo sarkastisch vorrechnet. Zehn Jahre lang habe die Schule eisern gespart und immer Geld zur Seite gelegt, um einen großen Theatersaal zu errichten, da ein solcher fehlte. Endlich habe man den benötigten Betrag in Höhe von 500.000 US-Dollar beisammen gehabt und mit der Umsetzung des Projekts begonnen. Dann sei über Nacht die Bankenkrise über das Land hereingebrochen und man habe seither – wie alle anderen Bankkunden auch – keinen Zugriff mehr auf das auf dem Bankkonto der Schule liegende Geld, das man wohl vollständig abschreiben müsse.

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Nun stehe der Rohbau für das neue Gebäude auf dem Schulgelände und werde realistischerweise wohl nie fertig gestellt werden. Seit fünf Jahren werden keinerlei Instandhaltungsarbeiten mehr durchgeführt, um jeden verfügbaren Betrag in die Aufrechterhaltung des Schulbetriebs stecken zu können. Jegliche Unterstützung sei ungeheuer wichtig und hoch willkommen.

Immerhin gelte es, die Gehälter für 47 Lehrkräfte zu bezahlen. Der Zustrom in die Schule ist unverändert hoch, auch viele muslimische Eltern legen großen Wert darauf, ihre Kinder hier einzuschulen. Eine Muslimin wollte unbedingt ihren zwölfjährigen Sohn in der Ordensschule einschreiben.
Als Pater Abdo das aus Platzgründen und mit Hinweis auf das fortgeschrittene Alter des Kindes ablehnte, insistierte die Mutter und sagte: „Wenn Sie ihn nicht aufnehmen, wird er sicher ein IS-Kämpfer, was ich um jeden Preis verhindern will.“ Das war der Moment, in dem Pater Abdo kapitulierte und den Buben aufnahm.

Hilfswerke wenden sich anderen Krisenherden zu

Ortswechsel in den nahe gelegenen chaldäischen Bischofssitz: Michel Kassarji, der chaldäische Bischof des Libanon, ist zuständig für 13 000 im Libanon geborene Chaldäer sowie für 1 200 chaldäische Flüchtlingsfamilien aus dem Irak. Sie kamen ab 2003, also nach dem Chaos, das durch die amerikanische Invasion im Irak verursacht wurde, und dann seit 2013/14, dem Höhepunkt der Terror-Herrschaft des IS im Irak, in den Libanon. Ihr Ziel war meist eine rasche Weiterreise in ein westliches Aufnahmeland.

Für die meisten zerschlug sich diese Hoffnung jedoch bald, denn im Durchschnitt beträgt die Wartezeit für die begehrten Visa sieben bis acht Jahre. Das stellt Familien vor enorme Probleme, denn aufgrund der hohen Lebenshaltungskosten im Libanon sind ihre Ersparnisse schon bald aufgebraucht. Da sie gewöhnlich mit einem nur für drei Monate gültigen Touristenvisum ins Land kommen, erhalten sie in der Folge keine Arbeitserlaubnis und müssen rasch bei ihrem Bischof um Unterstützung ansuchen. In vielen Fällen handelt es sich um Witwen mit ihren Kindern, deren Mann im Irak getötet wurde und die nun in großer Not sind. Die Diözese ist mit der gewaltigen Herausforderung der Unterstützung solcher Familien heillos überfordert, da viele westliche Hilfsorganisationen wegen zahlreicher anderer Kriege und Krisen ihre Hilfe im Libanon reduzierten, wie der Bischof beklagt.

Eine besondere Herausforderung ist der Schulbesuch der Kinder dieser Flüchtlingsfamilien. Um diesen zu sichern, gründete die Diözese 2017 eine informelle, vom Staat nicht anerkannte Schule, die aktuell von 170 Kindern im Alter zwischen vier und 16 Jahren besucht wird. Untergebracht ist die Schule im Tiefgeschoss eines großen Wohnblocks, weshalb aus Platzgründen in zwei Schichten unterrichtet werden muss.

Täglich über 1.000 warme Mahlzeiten

Das Unterrichten ist hier nicht leicht, da viele der Kinder vor ihrer Flucht aus dem Irak Schlimmes erlebt haben und die Schüler häufig wechseln: Einige können nach jahrelanger Wartezeit endlich in andere Aufnahmeländer weiterreisen, während andererseits immer wieder neue Kinder aus dem Irak nachkommen. Der laufende Schulbetrieb ist dank einer Förderung durch das Fürstentum Monaco gesichert, aber für den Betrieb der sechs Schulbusse wird noch Unterstützung benötigt.

Beeindruckend ist auch der Besuch bei einem anderen wichtigen Projektpartner: Der verheiratete maronitische Priester Hany Tawk empfängt uns stolz im neuen Gebäude der „Cuisine de Mariam“ (Marienküche), einer von ihm und seiner Frau 2020 nach der schrecklichen Explosionskatastrophe im Beiruter Hafen gegründeten Suppenküche.

Mit Unterstützung französischer Fördergeber entstand in unmittelbarer Nähe zu der desolaten Lagerhalle, in der diese wichtige Einrichtung seit ihrer Gründung beheimatet war, ein modernes, funktionelles Gebäude, das zu Jahresbeginn bezogen wurde. Die ICO ist einer der wichtigsten beständigen Förderer für die Finanzierung der Zubereitung von täglich über eintausend warmen Mahlzeiten. Diese werden einerseits über lokale Partner (vor allem maronitische Pfarreien) an bedürftige alte Menschen im ganzen Beiruter Stadtgebiet verteilt oder direkt am Standort der Küche an alle Hilfesuchenden – Obdachlose, Flüchtlinge, Gastarbeiter und lokale Bedürftige, unabhängig von Hautfarbe, Herkunft und Religionszugehörigkeit – abgegeben.

Dunia, die Frau von Hany Tawk, präsentiert den Gästen stolz die erstaunliche Erfolgsbilanz der Küche seit ihren bescheidenen Anfängen: mehr als 862.000 verteilte Mahlzeiten, über 8.000 ausgegebene Lebensmittel-Pakete, 500.000 Windeln und fast 50.000 Medikamente.

Ständiger Kleinkrieg an der Grenze zu Israel

Zwar wird hier Großartiges geleistet, aber die Tatsache, dass in der einstigen „Schweiz des Orients“ inzwischen Suppenküchen und Schulausspeisungen nötig sind, zeigt deutlich, wie sehr das Land am Boden liegt. Eine Studie von UNICEF besagt, dass 30 Prozent der Kinder abends hungrig zu Bett gehen und mehr als 75 Prozent der Haushalte nicht genügend Lebensmittel zur Verfügung haben.

Es kann immer noch schlimmer kommen: Überall herrscht die Sorge, dass das Land in den mörderischen Konflikt zwischen Israel und der Hamas hineingezogen werden könnte. Der ständige Kleinkrieg an der Grenze zum Nachbarn im Süden  hat auf libanesischer Seite schon weit mehr als 400 Todesopfer gefordert, darunter viele Zivilisten. Jeder Raketen- oder Granatenbeschuss durch die Hisbollah auf Ziele im Norden Israels ruft sofort entsprechende Vergeltungsangriffe hervor – meist unter der Wahrnehmungsschwelle der europäischen Öffentlichkeit. Das Land blickt zu Beginn dieses Sommers in einen Abgrund und hofft inständig, dass es nicht in diesen abgleitet.


Der Autor ist Projektkoordinator der „Initiative Christlicher Orient“ (ICO).

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