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Labour vor Erdrutschsieg

Die Tories steuern auf eine vernichtende Niederlage zu und könnten hinter der Partei von Nigel Farage landen. Und dann gewinnt die Linke wohl auch noch den Kulturkampf.
Der britische Thronfolger, Prinz William, mit Premierminister Rishi Sunak
Foto: IMAGO/Pool / i-Images (www.imago-images.de) | Vom britischen Thronfolger, Prinz William, darf sich Premierminister Rishi Sunak jedenfalls keine Ratschläge für den Wahlkampf der Tories erwarten.

Die Uhr tickt für Rishi Sunak und die Konservative Partei, es sieht schlecht aus für sie. Kurz vor der Unterhauswahl hat der britische Premier seinen Glauben als Kraftquelle in schwieriger Zeit hervorgehoben. Beim Treffen mit Papst Franziskus auf dem G7-Gipfel hätten beide keine Zeit für eine längere spirituelle Unterhaltung gehabt, sagte Sunak im Interview. Ihn leite sein hinduistischer Glaube durch die schwierige Wahlkampfperiode. „Im Hinduismus gibt es ein Pflichtkonzept namens Dharma, was grob übersetzt bedeutet, dass es darum geht, seine Pflicht zu tun und sich nicht auf das Ergebnis zu konzentrieren“, sagte er. Sunak, der Pflichtmensch, ackert weiter, obwohl die Umfragewerte desaströs sind.

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Wenn nicht alle Umfragen täuschen, wird die Partei bei der Wahl in zwei Wochen eine krachende, vernichtende Niederlage erleiden – und die Labour-Partei von Keir Starmer dürfte einen Erdrutschsieg einfahren. Labour liegt uneinholbar 20 Prozentpunkte vorne. Einige Politanalysten prognostizieren Sunaks Konservativen einen Absturz auf weniger als 100 Abgeordnete, von insgesamt 650 Sitzen im Parlament von Westminster. Bei ihrem großen Wahlsieg Ende 2019, damals von Boris Johnsons „Get Brexit Done“-Kampagne befeuert, errangen die Tories 365 Sitze. Seitdem bröckelte die Partei. Der sich jetzt abzeichnende Absturz ist tiefer als 1997, als die erschöpften und zerstrittenen Tories von John Major gegen Tony Blairs „New Labour“ untergingen.

"Super-Mehrheit" für Labour?

Kabinettsmitglieder wie Finanzminister Jeremy Hunt oder Verteidigungsminister Grant Shapps warnen schon öffentlich, dass die linke Oppositionspartei eine „Super-Mehrheit“ erringen könne. Sie betteln die Wähler förmlich um Mitleid an. Die rechtskonservative Boulevardzeitung „Daily Mail“ donnerte in dicken Lettern auf der Titelseite: „Eine Tory-Auslöschung droht zu einem sozialistischen Ein-Partei-Staat zu führen.“ Die schrille Warnung eines Ex-Generalstaatsanwalts zeigt, dass sich unter vielen Tory-Abgeordneten Endzeitstimmung breitmacht.

Zudem ist da noch ein Gespenst: Reform UK. Die Partei des ewigen Brexit-Trommlers Nigel Farage, die jetzt vor allem mit Kritik an der sehr hohen Immigration punktet, ist im Aufschwung und raubt den Konservativen entscheidende Stimmen. Laut einer YouGov-Umfrage in Vorwoche könnte Reform sogar vor den Tories liegen. Man sieht Farage mit breitem Grinsen in seinem Kampagnenbus durchs Land touren. Er scheint es zu genießen, dass die Tories in Todesangst sind. Erstmals nach fünf erfolglosen Anläufen könnte Farage im Wahlkreis Clacton-on-Sea an der Küste in Essex ein Unterhausmandat erringen. Insgesamt sind für Reform aber nur wenige Sitze realistisch. Dafür nimmt Farage in Kauf, dass die Konservativen pulverisiert werden.

Übernimmt Nigel Farage die Konservativen?

Sein Kalkül, so vermuten manche: Nach einer totalen Bruchlandung der Tories könnte er die Trümmer übernehmen und sich um den Vorsitz der Partei bewerben. Die frühere Innenministerin Suella Braverman hat schon dazu aufgerufen, Farage aufzunehmen. Tory-Warnung, dass jede Stimme für Reform den Labour-Sieg wahrscheinlicher mache, erscheinen zunehmend hilflos. Bei vielen enttäuschten kleinbürgerlichen oder rechten Wählern verfängt das Argument nicht mehr. „Labour hat ohnehin schon gewonnen“, sagt Farage.

Als lachender Dritter profitiert Keir Starmer von der Spaltung des konservativen und rechten Lagers. Er hat die Labour-Partei nach den Irrungen und Wirren mit ihrem hoch kontroversen, linksextremen Vorsitzenden Jeremy Corbyn auf einen gemäßigteren Kurs geführt. Vor fünf Jahren sagte Starmer noch, dass Corbyn „ein großartiger Premierminister“ sein würde, davon will er nichts mehr wissen.

Starmer hat einige Antisemiten aus der Partei ausgeschlossen und die linksradikalen Seilschaften und Cliquen in den Hintergrund gedrängt. Corbyn darf nicht mehr für die Partei kandidieren, er versucht es nun als Unabhängiger in Islington. Bei der Wahl präsentiert sich Starmer nun als grundsolider vertrauenswürdiger Kandidat. „Stabilität“ und „Sicherheit“ verspricht der 61 Jahre alte Jurist nach den Jahren des „Tory-Chaos“.

Der Grund für den Absturz der Tories liegt vor allem darin, dass die Bevölkerung nach 14 Jahren konservativ geführter Regierungen tief enttäuscht ist. Es waren Jahre voll Turbulenzen und Krisen, mit Kehrtwenden, heftigen internen Konflikten und enttäuschenden Resultaten. Nach dem Brexit-Votum 2016 musste Premier David Cameron sich geschlagen zurückziehen, seine glücklose Nachfolgerin Theresa May verkämpfte sich mit der zerstrittenen Partei über den EU-Austrittsvertrag. Johnson triumphierte 2019 bei der Wahl gegen Corbyn. Doch die Partys in der Downing Street 2020/2021, als der Rest des Landes unter strengen Corona-Lockdowns litt, haben viel Vertrauen gekostet. Das chaotische Intermezzo der Liz Truss im Oktober 2022, die nach nur 49 Tagen wegen eines kurzzeitigen Crashs am Finanzmarkt gehen musste, hat die Reputation noch mehr geschädigt.

Weit weg von den Sorgen der normalen Menschen

Sunak, der erst 44 Jahre alte Ex-Finanzminister, übernahm im November das Steuer auf einem halb sinkenden Schiff. Inzwischen sind die Bürger auch seiner komplett überdrüssig. Labour-Chef Keir Starmer stichelt, dass der Ex-Investmentbanker und Multimillionär Sunak weit weg von den Sorgen der normalen Menschen lebe. Während die Konservativen noch verzweifelt versuchen, die Wähler mit Steuersenkungen zu ködern, und eine Begrenzung der auf rund 700.000 Immigranten pro Jahr angewachsenen Zuwanderung versprechen, geißelt Labour die Liste der Misserfolge: Wirtschaftsschwäche, Millionen Patienten auf der Warteliste des staatlichen NHS-Gesundheitsdienstes, eine bröckelnde Infrastruktur.

Ironischerweise präsentiert sich Labour nun als die wirtschaftsfreundliche Partei für mehr Wachstum. „Wandel“ stand in großen Buchstaben hinter Keir Starmer, als er im Hochhaus des genossenschaftlichen Coop-Konzerns in Manchester sein Wahlmanifest vorstellte.

Viele wertkonservative Wähler sind von den Tories enttäuscht, fürchten Labour aber ebenso. Die von links angefachten Kulturkämpfe um die nationale Identität, um Statuen und die Geschichte des Empire sowie die permanente Berieselung des Publikums mit LGBT- und Transgender-Themen irritieren viele wertkonservative Wähler. Sie haben den Eindruck, dass die Tories zwar regierten, die Linke aber den Kulturkampf gewinne. Großbritannien hat sich im Rekordtempo gewandelt. Es ist immer weniger christlich geprägt, wird immer säkularer und ethnisch immer diverser.

Bekennende Christen erfahren Mobbing

Laut den neuen Zensus-Daten sind die Christen inzwischen keine Mehrheit mehr. In vielen Gebieten wächst die muslimische Minderheit stark, in einigen Städten Nordenglands oder in Ost-London dominiert sie schon. Immer wieder haben islamistische Attentate das Land erschüttert, etwa der Mord am Parlamentsabgeordneten David Amess 2022. Ein Lehrer in Nordengland musste wegen Morddrohungen monatelang unter Polizeischutz im Untergrund leben, nachdem er im Unterricht über Mohammed-Karikaturen gesprochen hatte.

Der Gaza-Krieg hat zu einer aufgeheizten, antiisraelischen und teils antisemitischen Stimmung geführt, es gab Anschläge auf jüdische Einrichtungen. Wie der Pfarrer der deutschsprachigen Gemeinde St. Bonifaz in Ost-London berichtete, gab es auch Übergriffe und Drohungen gegen Kirchenmitarbeiter. Starmer kam unter Druck wütender muslimischer Wähler, die ihm zu großes Verständnis für Israel vorwerfen; seitdem ringt die Labour-Partei um ihre Position zum Gaza-Konflikt.

Ethische Fragen wie Abtreibung und Lebensrecht spielen im britischen Wahlkampf kaum eine Rolle, obwohl auch hier dramatische Entwicklungen vorliegen. Unter den Konservativen wurde während der Covid-Zeit die „Abtreibungspille per Post“ legalisiert, aus der Ausnahmeregelung wurde ein Dauerzustand, auch wenn Pro-Life-Kritiker warnten. Mit Tory-Stimmen wurden unter Gesundheitsministerin Viktoria Atkins „Pufferzonen“ gegen Proteste von Pro-Life-Aktivisten rund um Abtreibungskliniken eingerichtet. Demonstrationen und sogar stumme Gebete sind dort verboten. Einzelne Christen, die nur still beteten, wurden von Polizisten verhaftet.

Zahl der Schwangerschaftsabbrüche 2022 auf historischem Rekord-Level

Die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche hat 2022 ein historisches Rekord-Level von 251.000 in England und Wales erreicht – ein Anstieg um 17 Prozent, während gleichzeitig die Zahl der Geburten weiter sinkt. Bei nur 605.000 Geburten endet also laut offizieller Statistik fast jede dritte Schwangerschaft mit Abtreibung. Die linke Labour-Abgeordnete Diana Johnson hat einen Gesetzentwurf eingebracht, der Abtreibungen sogar nach der 24. Schwangerschaftswoche entkriminalisieren würde – und auch prominente Tories unterstützen dies. Ein weiteres umstrittenes Thema ist die von einigen gewünschte Legalisierung der Sterbehilfe. Eine parteiübergreifende Initiative will die Euthanasie ermöglichen.

Der katholische Bischof Mark Davies, der die mittelenglische Diözese Shrewsbury leitet, hat die Wähler aufgerufen, die „Kultur des Todes“ zu stoppen und gegen das Euthanasie-Gesetz zu protestieren. Aber solche Stimmen werden nur noch im „Catholic Herald“ gehört, in der Breite der Medien finden sie keinen Widerhall. Eine Umfrage der christlichen Organisation „Voice for Justice UK“, über die der „Catholic Herald“ jüngst berichtete, ergab, dass die Mehrheit der bekennenden Christen schon Mobbing erlebt hat, wenn sie öffentlich zu ihren Überzeugungen stehen. Besonders wer sich kritisch zu LGBT-Themen äußere, werde angefeindet. Trotz der fast anderthalb Jahrzehnte formell konservativer Herrschaft wird auf konservative Ansichten gerade in den tonangebenden Medien mit oft schriller Feindseligkeit reagiert.

Das wahrscheinlichste Szenario für die Unterhauswahl am 4. Juli ist ein großer Sieg von Labour und eine Pulverisierung der Tories, woraus eine weitere Verschiebung der Politik und des Meinungsklimas in eine linksliberale Richtung resultieren dürfte. Die Grabenkämpfe auf der Rechten zwischen Farage und den Sunak-Tories dürften dazu eher noch beitragen.

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