Logo Johann Wilhelm Naumann Stiftung Reportage

Am Rande des Abgrunds

Ägypten ist einer der wichtigsten Vermittler im Gaza-Krieg. Wie sehen die Ägypter den Konflikt und welche wirtschaftlichen Auswirkungen hat er auf das Land?
Luftaufnahme eines Einwohnerviertels von Kairo
Foto: IMAGO/xBaloncicix (www.imago-images.de) | Die Armut ist in der ägyptischen Hauptstadt Kairo mit Händen zu greifen.

Palästina-Fahnen wehen an Gebäuden im Regierungsviertel Kairos im Nachmittagswind. Es ist ein Sinnbild für die Kommunikationsstrategie der Regierung unter Präsident al-Sisi: De facto ist Ägypten neben Katar und den USA der wichtigste Vermittler im Krieg zwischen Israel und der Terror-Organisation Hamas. Das bedeutet freilich ganz und gar nicht, dass diplomatische Neutralität das offizielle Ziel wäre. Die Regierung pflege innerhalb Ägyptens eine aggressiv pro-palästinensische Rhetorik, heißt es aus Kreisen der deutschen Botschaft in Kairo. Deutschland habe wegen seiner anfänglich klaren Positionierung für Israel daher seit dem Überfall der Hamas am 7. Oktober massiv an Ansehen eingebüßt.

Doch die politische Position werde nicht unbedingt im Volk geteilt, verlautet es aus dem Diplomaten-Umfeld. Zwar werde Israels militärisches Vorgehen im Gaza-Streifen tendenziell kritisch gesehen, doch dass der Grenzübergang zu der Region geschlossen gehalten wird, werde grundsätzlich in der Bevölkerung unterstützt. Vereinzelt trifft man zwar in der ägyptischen Hauptstadt Palästinenser, die wohl durch Bestechungsgelder in das Land gekommen sind, doch eine große Fluchtbewegung aus dem Gaza-Streifen möchte man lieber verhindern.

Inflation auf historischem Hoch

Denn das Land hat selbst wirtschaftlich massiv zu kämpfen. Wer abends außerhalb des schmucken Regierungsviertels durch die Stadt läuft, dem wird das Ausmaß der Armut bewusst: Kinder sortieren um 22 Uhr nachts am Straßenrand Müll, immer wieder liegen Obdachlose, an denen die Masse vorbeiströmt, mitten auf dem Gehsteig, Mütter verkaufen gemeinsam mit ihren Kindern Taschentücher am Wegesrand.

Die Inflation befindet sich auf dem höchsten Stand, den das Land je verzeichnet hat. Das liegt zum einen daran, dass Unternehmen wegen der Pandemie und des Krieges in der Ukraine Rohmaterialien und Vorprodukte aus dem Ausland fehlen. Auch die Angriffe der Huthi-Rebellen auf Handelsschiffe im Roten Meer haben dem Land zugesetzt – dadurch sind die Einnahmen, die Ägypten durch den Suez-Kanal verzeichnen konnte, im Vergleich zum Vorjahr um rund 50 Prozent auf 428 Millionen US-Dollar gesunken. Außerdem sind dem Land finanziell quasi die Hände gebunden: Zahlreiche Kredite vom Internationalen Währungsfonds, der Weltbank oder der Afrikanischen Entwicklungsbank und hohe Zinsen auf die Schulden sorgen dafür, dass fast der gesamte Staatshaushalt für die Rückzahlung aufgebracht werden muss.

Überambitioniertes Bauprojekt

Trotzdem leistet sich die Regierung ein Projekt, das es sich eigentlich nicht leisten kann: In der Wüste, etwa 50 Kilometer östlich von Kairo ist eine „neue Verwaltungshauptstadt“ in der Entstehung, die rund 54 Milliarden Euro kosten soll. Damit möchte al-Sisi das Problem der Überbevölkerung Kairos in den Griff bekommen – die Stadt ist mit 22 Millionen Einwohnern die größte Afrikas. Ein Teil der Regierungsinstitutionen ist bereits dorthin umgezogen. Bislang leben laut dem Vorsitzenden der Verwaltungshauptstadt für Stadtentwicklung, Khaled Abbas, rund 1 500 Familien in der „neuen Verwaltungshauptstadt“ – das Ziel ist, dass dort einmal 6,5 Millionen Menschen leben. Das Projekt steckt also noch in den Kinderschuhen – und das obwohl der Bau bereits 2016 begonnen hat. Die schwächelnde Wirtschaft wirft die Frage auf, ob die Stadt überhaupt fertiggestellt werden kann.

Lesen Sie auch:

Denn ausländische Investoren, die das Land dringend bräuchte, um wieder auf die Beine zu kommen, haben sich wegen der Wirtschaftskrise zurückgezogen. Seit 2022 wurden 15 Milliarden US-Dollar an Investitionen aus dem nordafrikanischen Land abgezogen – das ist etwa die Hälfte dessen, was Ägypten allein in diesem Jahr an Schulden zurückzahlen muss. „Investoren machen durch die Inflation Verluste, selbst wenn ein Unternehmen Wachstum zu verzeichnen hat, deswegen wird das Land für Anlagen zunehmend unattraktiv. Durch Zölle und die staatliche Einschränkung von Importen wird außerdem die rechtzeitige Lieferung von für die Produktion benötigten Teilen behindert, was Unternehmen zusätzlich hemmt“, lautet eine Erklärung aus der deutsch-arabischen Industrie- und Handelskammer in Kairo.

Deshalb verfolgen insbesondere gut gebildete Ägypter immer häufiger das Motto „Hauptsache raus aus dem Land“. Sie zieht es in die reicheren arabischen Staaten oder nach Europa. Denn selbst als Akademiker verdient man nicht viel mehr als den durchschnittlichen Lohn von circa 160 Euro im Monat. Insbesondere Deutschland ist ein beliebtes Ziel und von großer Bedeutung: Denn die Rücküberweisungen von ausgewanderten Ägyptern befanden sich laut Botschaftsmitarbeitern im vergangenen Jahr im zweistelligen Milliardenbereich und waren damit eine wichtige Einnahmequelle. Die sieben deutschen Schulen gelten als die besten des Landes – auch der Enkelsohn des Präsidenten al-Sisi besucht eine von ihnen. Trotzdem verliert Deutschland an Bedeutung in dem bevölkerungsreichsten Land der arabischen Welt, verlautet es aus den Botschafts-Kreisen. Dabei wollen die beiden Länder ihre Zusammenarbeit insbesondere im Energie-Sektor künftig vertiefen: Ägypten verfügt über große Gasvorkommen und plant einen der größten Windparks der Welt.

Zusammenarbeit mit Deutschland

Doch politisch sind Deutschland und Ägypten nicht auf einer Wellenlänge: So betonte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) bei einer Pressekonferenz mit al-Sisi im vergangenen Jahr, dass „die Chancen, Rechte und Freiheiten der Menschen in Ägypten“ die Voraussetzungen für den Erfolg des Landes bildeten und plädierte für „mehr Partizipation und Rechtsstaatlichkeit“. Doch davon ist Ägypten aktuell weit entfernt: Eine aus Kairo stammende Studentin berichtet: „Wir erfahren von politischen Entscheidungen in der Regel erst, wenn sie bereits umgesetzt werden.“ Al-Sisi ließ sich im vergangenen Jahr mit rund 90 Prozent zum dritten Mal wiederwählen. Seitdem er sich 2013 an die Macht geputscht hat, werden die Meinungs-, Versammlungs- und Pressefreiheit immer mehr eingeschränkt. Unter dem Vorwand, die nationale Einheit schützen zu wollen, hat al-Sisi das Land in eine Militärdiktatur verwandelt, in der ein Protestverbot herrscht und Oppositionelle unterdrückt werden. Das Militär ist allgegenwärtig: An jeder Ecke steht ein Soldat in einem Wachhäuschen, immer wieder kreuzen Militär-Lkws auf den Straßen auf. Die Leute sind deswegen zunehmend vorsichtig geworden: Man redet in der Öffentlichkeit nicht über Politik, politische Inhalte sollen auf keinen Fall verbreitet werden.

Auf der Fahrt aus Kairo heraus, bei der die größtenteils nicht fertig gebauten Häuser, vor denen bettelnde Leute stehen, am Fenster vorbeiziehen, wird klar: Das Land steht nicht nur wegen seiner Nähe zum Gaza-Streifen, sondern auch wegen der wirtschaftlich miserablen Lage buchstäblich am Rande des Abgrunds.

Die Printausgabe der Tagespost vervollständigt aktuelle Nachrichten auf die-tagespost.de mit Hintergründen und Analysen.

Themen & Autoren
Veronika Wetzel Hamas Inflation Mahmud Abbas SPD Überbevölkerung

Weitere Artikel

Im Libanon, einst als „Schweiz des Orients“ gerühmt, braucht es mittlerweile Suppenküchen.
20.06.2024, 19 Uhr
Stefan Maier
Die "Bild" macht Stimmung gegen Dozenten, die sich mit pro-palästinensischen Protesten solidarisieren. Alle Beteiligten haben einen blinden Fleck.
16.05.2024, 07 Uhr
Sebastian Ostritsch

Kirche

Der Statue im Linzer Mariendom, die eine gebärende Maria zeigt, wurde am Montag der Kopf abgesägt. Zuvor hatte die Darstellung für heftige Kritik gesorgt.
01.07.2024, 17 Uhr
Meldung
Auf dem Weg von Minnesota nach Illinois geht die große Eucharistische Prozession auch durch Armenviertel und Orte, die niemand kennt. Die Menschen interessieren sich und fragen nach.
01.07.2024, 11 Uhr
Kai Weiß
Wenn es keinen Synodalen Rat geben sollte, fehlt der Schlussstein und das deutsche Konstrukt wird in sich zusammenstürzen.
29.06.2024, 11 Uhr
Guido Horst