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Trauma einer Flucht aus Afrika

Warum verlassen Afrikaner ihre Heimat? Und wie fühlt sich die Flucht über das Mittelmeer an? Eine Reportage.
Ein Rettungsschiff mit Flüchtlingen an Bord legt in Malaga an (2020).
Foto: Jesus Merida (www.imago-images.de) | Ein Rettungsschiff mit Flüchtlingen an Bord legt in Malaga an (2020).

Der Kameruner Thomas wohnt seit einem Jahr keine fünfhundert Meter vom Strand der andalusischen Stadt Cádiz entfernt. Doch ans Meer geht er so gut wie nie. Wenn der 32-Jährige doch mal die Promenade neben dem Strand entlang schlendert, schweift sein Blick über den Horizont des Mittelmeers. Mit Schweißperlen auf der Stirn schaut er auf ein Massengrab.
Über neunzig Prozent der Menschen, die versuchen, mit Booten aus Nordafrika nach Spanien überzusetzen, sind Männer. „Wenn ich an die vielen afrikanischen Brüder denke, die in der Sahara verdurstet sind oder im Mittelmeer ertrunken, dann frage ich mich: Warum? Warum müssen wir dieses Leben führen? Was haben wir getan? Bisher habe ich noch keine Antwort gefunden.“

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Die schwierigen, oft lebensbedrohlichen Bedingungen der Migration verursachen Traumata in Hunderttausenden Afrikanern. Viele träumen von einem besseren Leben in Europa, bis sie in der Wüste verdursten. Viele verlieren ihr Leben auch bei dem Versuch, das Meer zu überqueren. Im Jahr 2023 gab es in 1 900 Fällen konkrete Hinweise für den Tod von Migranten allein vor der spanischen Küste. Fünf Tote jeden Tag. Tatsächlich aber vermutet die Internationale Organisation für Migration, dass deutlich mehr Menschen bei dem Versuch umkommen, Spanien zu erreichen. Sie geht davon aus, dass für jede gefundene Leiche mindestens drei weitere nie auftauchen.

Das tägliche Sterben auf See 

Der Paderborner Psychotherapeut Martin Kolek wundert sich nicht, dass es keine vertrauenswürdigen Statistiken über das tägliche Sterben auf See gibt. Die Tragödien sind ein Massenphänomen, das ungezählt bleibt. Aber Kolek will sie nicht ignorieren. Deshalb heuert er jedes Jahr während der Sommermonate als ehrenamtliches Besatzungsmitglied auf einem Seenot-Rettungsschiff an. „Zurzeit gehöre ich zu dem Team des Monitorseglers Nadir im Mittelmeer. Das ist ein Schiff der Organisation ResqShip. Wir sind vor Ort und helfen allen Menschen, die in Not geraten, egal, wo sie herkommen“, sagt Kolek.

Manchmal kommt die Hilfe zu spät. Dann muss der rotbärtige Heilpraktiker Leichen aus dem Wasser bergen. „Einmal konnten wir 22 von 45 Menschen in einem Boot retten. Zudem haben wir zwei Tote an Bord genommen. Die beiden Ertrunkenen schwammen in einem Autoschlauch, der senkrecht stand. Wenn ein Schlauch so steht, kann man sicher sein: Die Person da drin ist ertrunken.“

Heimat wegen Todesangst verlassen

Thomas fällt es schwer, über die Gründe seiner Flucht aus Kamerun zu sprechen. Er hatte nie das Gefühl, dass seine Familie ihn so akzeptiert, wie er ist. In der Schule wurde er gemobbt. Als Erwachsener bekam er Todesangst. „Ich habe meine Heimat verlassen, weil der Onkel meiner Mutter gesagt hat: ,Das kann nicht sein. Er kann nicht so sein.‘ Das war der Auslöser des Problems, ein sehr gefährliches Problem. Ich wollte nicht sterben. Deshalb bin ich gegangen.“

Von solchen Todesängsten hört Martin Kollek in seinen Therapiestunden oft. Er hat erfahren, dass es in Afrika Orte gibt, an die Geflüchtete nicht zurückkehren können: „Homosexualität oder Fremdgehen kann zur Todesstrafe führen. Es gibt viele Situationen, in die es kein Zurück gibt.“

Quälende Erinnerungen

Vor Beginn ihrer Reise sind sich viele Migranten der Risiken bewusst. Trotzdem entscheiden sie sich dafür, aufzubrechen. So entsteht ein Gefühl der Freiheit, meint Martin Kolek: „Es ist ihre Entscheidung. Sie riskieren ihr eigenes Leben, lassen sich ihr letztes Geld abnehmen, haben keine Schuhe mehr, keinen Pass. Aber sie sagen: ,Ich werde mich nie wieder so malträtieren lassen wie in meiner Heimat.‘ Das fühlt sich gut an.“

Viele Migranten in Marokko unternehmen mehrere Versuche, um Spanien zu erreichen. Thomas erzählt, dass während seiner Zeit in Marokko an manchen Tagen zehn Personen aus seinem Bekanntenkreis nach Europa aufgebrochen sind. „Von denen schaffen es womöglich vier nach Spanien“, sagt er. „Fünf kommen zurück nach Marokko und einer stirbt. Das ist eine Tombola.“

Auf dem Boot gibt es kein Zurück

Bei seinem zweiten Versuch war sich Thomas sicher: Es wird kein Zurück geben, egal auf was für einem überfüllten, weitgehend hochseeuntauglichen Gummiboot er landet. „Als ich abends auf diesem Strand ankam, waren dort schon viele Menschen. Aber es kamen immer mehr. Wir sind dann alle in ein Boot gestiegen. 58 Personen. Neun Frauen und der Rest Männer und ein Baby.“

Thomas hatte keine Ahnung, wer verantwortlich für all die Passagiere sein würde. Erst als ein junger Kerl an Bord sprang, wurde deutlich, dass er die Steuerung des Außenbordmotors übernehmen würde. „Ich hatte sein Gesicht noch nie gesehen. Niemand kannte ihn. Trotzdem halfen wir ihm, das Boot weit aufs Meer zu schieben. Jetzt waren wir Teil einer Organisation. Ich hatte meinen Preis bezahlt, deshalb durfte ich mitfahren. Mir blieb nichts anderes übrig, als Gott zu bitten, dass ich die Fahrt überlebe.“

Panik und Gebete

Das Boot von Thomas war vier Nächte und drei Tage unterwegs. Sein Ziel: Die Kanaren, eine spanische Inselgruppe vor der Südküste Marokkos. In Situationen, in denen Menschen auf einem Boot mit ihrem Tod rechnen, zeigen einige einen ungefilterten Egoismus. Martin Kolek betreut seit mehreren Jahren einen Klienten, der die Wüste durchquert und dann tagelang auf dem Atlantik in einem Boot überlebt hat: „Er war unter Deck in der Nähe des Motors. Nach und nach sind um ihn herum mehrere Menschen gestorben. Es kam zu Tötungen. Er war extrem seekrank und ist irgendwann bewusstlos geworden.“

Auf so einem Boot gibt es keine Toiletten. Immer wieder muss sich jemand übergeben. Exkremente landen in Schuhen. Schuhe gehen über Bord. Es wird Nacht. „Die wenigsten Menschen haben je eine Nacht auf dem Meer verbracht“, sagt Martin Kolek. „Wenn es richtig dunkel wird, ist es einfach nur schwarz. Manchmal wussten wir: Da ist ein Boot. Wir hörten Schreie, konnten es aber einfach nicht sehen.“ Thomas erinnert sich an die Schreie der Frauen. „Viele haben gebetet. Die Muslime haben gebetet. Die Christen haben gebetet: ,Welcher Gott auch immer: Hilf uns, hilf uns.‘“

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Das Boot von Thomas hat es nicht bis zum Ziel geschafft. Nach drei Tagen funktionierte der Motor nicht mehr. „Du beginnst zu halluzinieren“, erinnert er sich. „Du weißt, dass du sterben wirst. Dann plötzlich erreichte uns ein Anruf vom Roten Kreuz in Deutschland. Die Stimme sagte: ,Bleibt ruhig und schickt uns eure Position per WhatsApp.‘ Irgendwann kam die Rettung. Wir waren nur wenige Kilometer vor Gran Canaria entfernt, an einem Sonntag um acht Uhr morgens.“ Thomas erlebte seine Rettung wie einen Sieg: „Es war wie das Ende eines Kampfes: ,Sieg! Sieg!‘ Alle jubelten: ,Gott sei Dank. Danke, Danke. Dank sei Gott.‘“

Ankunft in Europa

Wenn Migranten an den Küsten Europas ankommen, ist ihr erster Kontakt häufig mit Beamten einer Sicherheitsbehörde. Auch Thomas wurde von einem Polizisten registriert. „Die Frau mit dem Baby kam sofort in ein Krankenhaus. Wir anderen kamen in eine Unterkunft. Dort blieben wir elf Tage lang.“ Nach der Entlassung aus dem Polizeigewahrsam wurde Thomas aufs spanische Festland gebracht.

Dort nahm ihn die katholische Vereinigung Cardijn in Cadíz in Empfang. Vorerst ist seine Hoffnung auf ein Leben in Frieden, ohne Angst in Erfüllung gegangen. Er wohnt nun schon seit über einem Jahr in Cadíz. Einige der Mitarbeitenden der Vereinigung Cardijn bieten den afrikanischen Gästen an, über ihre traumatischen Reiseerfahrungen zu sprechen. Die belgische Sozialarbeiterin Katja Verardo bedauert, dass die meisten Männer ihre schrecklichen Erinnerungen lieber in einer dunklen Ecke ihres Bewusstseins verbergen: „Viele leiden unter heftigen posttraumatischen Belastungen. Aber anstatt darüber zu sprechen, sagen sie: ,Das liegt hinter mir. Ich schaue nach vorn. Das ist der Wille Gottes.‘“

Der Therapeut Martin Kolek weiß aus Erfahrung, wie grausam das Meer sein kann: „Wenn ein Boot untergeht, ist es sofort weg. Auch die Leichen verschwinden schnell. Einmal sind wir an eine Stelle gekommen, an der kurz zuvor vierzig Menschen ertrunken sind. Ein Säugling war noch an der Oberfläche. Ich dachte erst, es sei eine Puppe, die im Wasser schwebt. Doch dann hatte ich ein totes Kind im Arm.“ Die Erinnerung an die kleine Leiche lässt den Therapeuten bis heute nicht los. Sie motiviert ihn aber auch, sich weiter für die wehrlosen Menschen auf dem Meer zu engagieren. Thomas hingegen hofft, dass der Schmerz der traurigen Erinnerungen bald nachlassen wird. „Es ist nicht einfach zu vergessen. Aber ich glaube, ich werde es schaffen.“

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Andreas Boueke Migranten

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