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Kaum zu glauben: Deutschland steht im Achtelfinale

Doch statt freudiger Überraschung diskutiert die Nation über Identitätspolitik.
Weltmeisterschaft WM 1990 - Franz Beckenbauer
Foto: imago sportfotodienst/ imago/Pressefoto Baumann | Was Franz Beckenbauer 1990 sagte, gilt noch heute: : „Geht‘s naus und spuits Fußball!“

Deutschland steht im Achtelfinale der Fußball-Europameisterschaften. Dem 5:1 gegen Schottland ließen die Nagelsmänner gestern Abend in Stuttgart ein 2:0 gegen Ungarn folgen. Wer das nach den beiden Testspielen der deutschen Elf gegen die Ukraine und Griechenland vorhergesagt hätte, hätte diese Prophezeiung mit Vielem rechtfertigen können: Mit glühendem Patriotismus etwa, rosaroten Sonnenbrillengläsern, göttlicher Eingebung oder kindlichem Wunschendenken. Nur eben nicht mit fußballerischem Sachverstand.

Mentale Blutgrätsche und gedankliches Abseits

Tatsächlich begann schon der Auftakt gestern vielversprechend. Allerdings für die Ungarn, die sich über 90 Minuten hinweg als deutlich spielstärker als die Schotten beim kroosartigen EM-Auftakt der deutschen Elf in der Allianz-Arena erweisen sollten. Tiefer wollen wir hier gar nicht in die Analyse des Spiels einsteigen und stattdessen feststellen: König Fußball scheidet die Geister. Während die Unkundigen in dem Ballspiel kaum mehr als eine Alibiveranstaltung für Bandenwerbung und den Verkauf von Hopfenblütentee erblicken und mit ihn nur wenig mehr als Legionen zertretener Grashalme, Berge von Bierdosen und Zugabteile mit Erbrochenem verbinden, erkennen die Kundigen in ihm ein von Kreativität, Ästhetik und Perfektion geprägtes „Rasen-Schach“, dessen öffentliche Darbietung nicht nur Generationen, Milieus und ganze Nationen, sondern sogar die Geschlechter zu verbinden vermag.

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Ob im Stadium, beim Public Viewing, oder auf der Wohnzimmercouch: Nirgendwo wird selbst das Loriot‘sche Theorem („Männer und Frauen passen einfach nicht zusammen“) mit einer solchen Regelmäßigkeit außer Kraft gesetzt, wie beim Fußball. Und weil das so ist, eignet sich der Fußball auch nicht für Identitätspolitik, gleich welcher Coleur. Mag der Bierdunst so manchem, der meint zeigen zu müssen, was er am Pappbecher so alles kann, auch den Kopf vernebeln. Wer meint, Spielern allein aufgrund ihrer fremdländisch klingenden Namen absprechen zu können, den Bundesadler zu Recht auf der Brust zu tragen, blutgrätscht genauso ins Mentale wie sich gedanklich ins Abseits befördert, wer die aus der Tiefe des Multikulti-Raumes kommende These beklatscht, ohne sie sei die deutsche Elf sowie verloren.

Das Linerker‘sche Diktum, des Kaisers Befehl

Und wenn es eine Nation gibt, die überhaupt kein Recht besitzt, den Fußball für Identitätspolitik, gleich welcher Coleur, zu instrumentalisieren, dann sind es die Deutschen. Denn trotz des Gary Lineker‘schen Diktums „Fußball ist ein einfaches Spiel: 22 Männer jagen 90 Minuten lang einem Ball nach, und am Ende gewinnen immer die Deutschen“, ist der Fußball keine deutsche, sondern bleibt eine britische Erfindung, was sich schon etymologisch zuverlässig an Begriffen wie „Fairplay“, „Foul“, „Tackling“ oder „Keeper“ ablesen lässt.

Wenn also am Sonntag das letzte Vorrundenspiel der Nagelmänner und ihres in Gelsenkirchen geborenen Kapitäns İlkay Gündoğan gegen die Schweiz ansteht, dann darf die Identitätspolitik ruhig wieder in den Katakomben verschwinden. Stattdessen könnten sich alle auf und neben dem Platz wieder des legendären Tagesbefehls des Kaisers vor dem WM-Finale 1990 in Rom erinnern, der sich ganz einfach befolgen lässt und lautet: „Geht‘s naus und spuits Fußball!“

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Stefan Rehder EM2024

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