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Auslandspfarrer: „Man hat Angst vor der Konfrontation“

Im East End Londons findet der Nahost-Konflikt auf den Straßen statt - mitsamt antisemitischer Übergriffe. Auch Christen werden zur Zielscheibe. Ein Gespräch mit Pfarrer Andreas Blum.
East End in London
Foto: Andreas Blum | Der alte Topos von den Juden als Gottesmördern taucht wieder auf. Das Graffiti im Londoner East End erklärt den Gekreuzigten zum Palästinenser („Homeboy“) und beraubt ihn seiner jüdischen Identität.

Die deutsche Gemeinde St. Boniface in London liegt im Osten der Stadt, in Tower Hamlets, einem der sozial schwächsten Kieze der Stadt. Der Stadtteil ist von Einwanderern geprägt; die Gründung der Gemeinde geht auf die Zeit zurück, als Deutsche nach England oder Amerika auswanderten und dort strandeten. Ein Gespräch mit Pfarrer Andreas Blum über die Folgen des Nahostkonflikts für Christen und Juden im East End.

Herr Pfarrer Blum, wie haben Sie die Zeit nach dem Angriff der Hamas auf Israel in Ihrer Gemeinde erlebt?

Was nach dem Angriff hier passierte, muss man von anderen Stadtteilen Londons unterscheiden. Wir sind hier im East End, wo hauptsächlich Menschen aus Bangladesch und aus Pakistan leben. Sie dominieren das Stadtviertel bis in das Rathaus hinein. (Tower Hamlets hat dem Census 2021-22 zufolge mit 40 Prozent den größten Anteil von Muslimen an der Bevölkerung in ganz England, A.d.R.) Nach dem Angriff der Hamas gab es nicht wie andernorts eine Solidarisierung mit Israel oder Forderungen nach der Freilassung der Geiseln. Noch ehe Israel überhaupt reagiert hatte, gab es schon anti-israelische Initiativen: Überall wurden palästinensische Fahnen aufgehängt, und es fanden an jedem Wochenende Demonstrationszüge in Richtung Londoner Zentrum statt. Auch die Schüler „streikten“, wie sie das nannten, im Greta-Thunberg-Modus und skandierten auf der Straße antisemitische Parolen – unter dem Schutz ihrer Lehrer. Als ich mit den Kollegen hier vor Ort sprach, stellte sich heraus, dass auch die christlichen Gemeinden betroffen sind. Es gab vermehrt Übergriffe und Angriffe.

Pfarrer Andreas Blum
Foto: privat | Die jüngsten Übergriffe seien etwas Neues. „Der Konflikt im Nahen Osten kommt hier ungefiltert auf die Straße“, so der Kölner Diözesanpriester Andreas Blum.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Ja: Die Ordensschwestern aus Brasilien, die zwei Straßen von unserer Kirche entfernt leben, wurden auf einmal auf offener Straße angespuckt. Auch in dem großen Krankenhaus nebenan wurden in einem Gebetsraum, der für alle Religionen da ist, der Tabernakel und der Altar geschändet, während alle muslimischen Utensilien unangetastet blieben. Als jemand in einer benachbarten Straße die palästinensische Fahne herunterholen wollte, die vor einer Kirche aufgehängt worden war, hielten zwei Autos an und der Mann wurde von den Insassen zusammengeschlagen. Das hat es so in dieser Form vorher nicht gegeben. Wir haben zwar immer schon mal Graffiti an den Kirchenwänden gehabt – „Allah is watching you“ oder kleine Teufelsdarstellungen. Das hat uns nicht weiter beunruhigt. Aber die Übergriffe jetzt sind etwas Neues. Der Konflikt im Nahen Osten kommt hier ungefiltert auf die Straße.

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Welche Reaktionen gibt es darauf?

Was mich dabei besonders erschreckt, ist die politische Sprachlosigkeit. Keiner will sich groß mit diesem Thema beschäftigen. Meiner Ansicht nach wäre ein klares Zeichen des Staates oder der englischen Gesellschaft vonnöten, aber da passiert nichts. Mich wundert diese Trägheit. Hier in der Nähe befindet sich die Cable Street, die in ganz England ein Begriff ist, weil hier 1936 eine Schlacht stattfand. Eine Demonstration der englischen Faschisten unter Oswald Mosley wurde in der Cable Street von einer Allianz der Arbeiter und Einwanderer gestoppt. Das wird bis heute groß gefeiert: Es gibt Musicals und Theaterstücke darüber; man klopft sich gegenseitig auf die Schultern. Gleichzeitig wird hier auf der Straße eine Gruppe überaus dominant und verfolgt ihre politischen Ziele in einer Art und Weise, dass sich andere eingeschüchtert fühlen und nicht mehr auf die Straße trauen. Da wird überhaupt keine Verbindung gesehen. Das faschistische Heute sieht anders aus als damals. Der Rückblick auf die Geschichte sollte eigentlich ermutigen, auch heute solchen Märschen entgegenzutreten. Aber das Gegenteil ist der Fall.

Wie sehen Sie die Situation der Juden im Stadtteil?

Ich habe Kontakte hier im East End zu den wenigen verbliebenen Synagogen und Juden. Man hört, dass weggesehen wird und dass Juden nicht mehr mit Kippa oder Davidstern auf die Straße gehen. Nach dem letzten Besuch in der Synagoge wollte ich einfach auf die Straße hinausgehen. Da wurde ich zurückgehalten: „Nein, bevor man hier nicht durch den Spion geschaut und gesehen hat, wer draußen auf der Straße ist, geht hier keiner raus.“ Das ist London, das ist Europa im 21. Jahrhundert: Juden müssen sich wieder verstecken, bevor sie auf die Straße dürfen – und keiner schreit auf. Wenn ich mich in Diskussionen äußere, werden meine Wortmeldungen oft als „German guilt“, als deutsche Schuld bezeichnet. Man spricht Deutschen ab, noch frei die Wahrheit zu sehen, da wir  durch unsere Geschichte und unsere Schulderfahrung vorbelastet seien. Mein Diskussionsbeitrag wird also ganz schnell beiseite geschoben, anstatt zuzuhören und anzuerkennen, dass wir Deutschen leider Erfahrungen mit Antisemitismus haben und uns mit seiner Entstehung und seinen Erscheinungsformen befasst haben. 

Bei welchen Anlässen erhalten Sie solche Reaktionen?

Ich habe hier im Rathaus zum Holocaust-Gedenktag eine Rede gehalten und glaube nicht, dass ich wirklich verstanden worden bin.

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Woran liegt dieses Unverständnis?

Zum einen liegt es an der schieren Masse. Man hat Angst vor der Konfrontation. Ein Beispiel: Als kürzlich wieder eine politische Demonstration in der Innenstadt von London stattfand, kam ein Jude in die Nähe, der an der Kippa klar erkenntlich war, und wollte die Straße überqueren.  Die Polizei hat diesen Mann nicht geschützt, sondern ihn umgekehrt der Provokation bezichtigt. Eigentlich wollte sie ihn aus dem Weg haben. Ich weiß nicht, wieviel Provokation wirklich dahinter stand, aber damit wurde gezeigt, dass nicht der Einzelne oder die Freiheit geschützt wird. Es soll irgendwie ruhig bleiben. Mit einer so dominanten Gruppe wie hier im East End möchte man keinen Konflikt.

Wie sieht es mit der Solidarität der Christen untereinander aus?

Es gibt Besuche von der Diözese: der Bischof oder jemand von der Personalabteilung kommt. Man schaut, was passiert ist und wie ein besserer Schutz aussehen kann. Aber auch da feiert man lieber die Interreligiosität, als die konkreten Probleme anzuschauen. Ein Beispiel: Der Beauftragte für interreligiöse Angelegenheiten der Diözese Westminster sprach mich darauf an, dass in Tower Hamlets doch eines der aktivsten und erfolgreichsten interreligiösen Foren bestehe. Ich wusste davon nichts, obwohl ich jetzt fast sieben Jahre hier bin. Auch kein einziger meiner Kollegen kannte dieses Forum. Dann habe ich die Vorsitzende dieses Forums, eine Muslima, gefragt, wer der katholische Vertreter in ihrem Gremium sei. Das konnte sie mir auch nicht sagen. Wie kann eine Diözese behaupten, es gebe einen guten Austausch, wenn man noch nicht mal voneinander weiß? Das bestätigt meinen Verdacht, dass man die Kärrnerarbeit im Alltag, die manchmal alles andere als blumig ist, lieber nicht sehen möchte und sich dann hinter Schaufensterveranstaltungen versteckt.

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