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Wie der demografische Wandel unser Land verändern wird

Die demografische Krise beginnt jetzt. Ein Blick auf die Auswirkungen in fünf zentralen Bereichen.
Senioren-Versammlung
Foto: IMAGO / bonn-sequenz | Abbild der Gesellschaft? Deutschland wird älter - die Folgen werden in den nächsten Jahren deutlich spürbarer werden.

Seit Anfang 1972 sterben in Deutschland jedes Jahr mehr Menschen als geboren werden. Die "natürliche Bevölkerungsentwicklung" weist seither also ein Defizit aus   und so schrumpft auch tatsächlich seither die "biodeutsche" Bevölkerung ohne Migrationshintergrund. Grund dafür ist die gesunkene Geburtenziffer. Seit den 70er Jahren schwankt die Kinderzahl pro Frau im Wesentlichen um den Wert 1,4 - deutlich weniger als die 2,1 Kinder, die nötig wären, damit die Bevölkerung stabil bleibt. Auch nach einer zwischenzeitlichen Erhöhung auf bis zu 1,59 nach 2015 ist die Kinderzahl nach Angaben des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung mittlerweile wieder auf 1,36 (Stand Herbst 2023) gesunken.

Warum also beginnt dann die demografische Krise erst "jetzt"? Weil jetzt die "Babyboomer" in Rente gehen. Der geburtenstärkste Jahrgang war das Jahr 1964 mit 1,36 Millionen Kindern. Dieser Jahrgang wird 2028 64 Jahre alt, und erreicht damit das durchschnittliche Renteneintrittsalter. Auch in den 50er und dann während der gesamten 60er Jahre gab es immer über eine Million Geburten pro Jahr. Erstmals unterschritten wurde diese Marke 1972. 2023 wurden in der Bundesrepublik noch 693000 Kinder geboren. Damit wird - gemäß der mittleren Variante der aktuellen Bevölkerungsvorausberechnung durch das statistische Bundesamt, die dabei im Übrigen mit einer Geburtenziffer von 1,55 und einer Nettoeinwanderung von 290000 Menschen im Jahr rechnet - bis 2030 der Anteil der Menschen über 64 Jahren von derzeit etwa 23 Prozent auf etwa 25 Prozent (2035: 27 Prozent) zunehmen, der Anteil der Menschen im Erwerbsalter (20-67) von 58 Prozent auf 56 Prozent (2035: 54 Prozent) sinken. Der Anteil der unter Zwanzigjährigen bleibt in etwa konstant.

Statistik: Natürliche Bevölkerungsentwicklung 1950 - 2020
Foto: Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung | Schon seit den 1970er Jahren gibt es durchgehend mehr Sterbefälle als Geburten.

Damit ist auch klar, dass die "demografische Dividende" aufgezehrt ist: Als die geburtenstarken Jahrgänge noch voll im Erwerbsleben standen, bedeutete die niedrige Kinderzahl zunächst einen gesamtwirtschaftlichen Vorteil, weil viele Menschen arbeiteten, und wenige versorgt werden mussten   schließlich sind nicht nur Alte, sondern auch Kinder von der Versorgung durch die Erwerbsfähigen abhängig. So war der Anteil der "Abhängigen" noch 1980 ungefähr so hoch wie heute (davon allerdings deutlich mehr Kinder), am niedrigsten dann in den 90er Jahren. Nun steigt er mit wachsender Dynamik.

Dass in Deutschland überhaupt noch so viele Menschen leben, die Bevölkerungszahl mit aktuell 84,4 Millionen gar auf einem Rekordhoch liegt, ist somit nur der Nettozuwanderung der vergangenen Jahrzehnte zu verdanken. Damit hatten 2022 28,7 Prozent der Bevölkerung einen Migrationshintergrund, davon sind etwa die Hälfte ausländische Staatsbürger. Mit einem Durchschnittsalter von 36 Jahren ist die Bevölkerung mit Migrationshintergrund deutlich jünger als die autochthone (47 Jahre). In der Altersgruppe der unter Fünfzehnjährigen beträgt ihr Anteil 42 Prozent, wobei es starke regionale Unterschiede hinsichtlich der Verteilung der Bevölkerung mit Migrationshintergrund gibt. Insgesamt wird Deutschland älter, ethnisch diverser, und möglicherweise dennoch größer: Je nach Zuwanderung rechnet das statistische Bundesamt für 2035 mit einer Bevölkerungszahl zwischen 83 und 87 Millionen, für 2070 zwischen 74 und 90 Millionen. (jra)

Problem für die Wirtschaft: der Fachkräftemangel

Für die Wirtschaft wird mit dem demografischen Wandel meist vor allem eine Konsequenz verknüpft: der Fachkräftemangel, also die wachsende Differenz zwischen offenen Stellen und Arbeitssuchenden. Was sich für Arbeitnehmer zunächst einmal positiv anhört, sorgt doch eine starke Arbeitsnachfrage für höhere Löhne (und weniger Arbeitslosigkeit), bewirkt nichtsdestotrotz, dass die erzielte Wirtschaftsleistung, die am Ende verteilt werden kann, und damit auch der finanzielle Spielraum für Sozialversicherungen und Staatshaushalt, wesentlich kleiner ist, als er sein könnte. Spannend wird auch, ob es gelingt, den bereits jetzt bestehenden Fachkräftemangel in unbedingt notwendigen, demografiebedingt wachsenden Branchen zu decken, was zumindest relativ eine andere Verteilung der zur Verfügung stehenden Arbeitskräfte implizieren würde. So werden nach Berechnungen des statistischen Bundesamts in zehn Jahren mit zwischen 90000 und 350000 Pfleger fehlen, 2049 zwischen 280000 und 690000. Vor allem Gewerbe, in denen die menschliche Arbeitskraft schwer durch zusätzliche Technik zu kompensieren ist, dürften in Schwierigkeiten geraten.

Dass Unternehmen schon seit geraumer Zeit über Fachkräftemangel klagen, ist eigentlich paradox. Noch nie haben in Deutschland so viele Menschen gearbeitet wie aktuell mit fast 46 Millionen Erwerbstätigen. Nur: das sogenannte Arbeitsvolumen, also die Anzahl der gearbeiteten Stunden, sinkt schon seit 2019, und wuchs auch seit der Jahrtausendwende vor allem durch höhere Erwerbsquoten, etwa bei Frauen. Langfristig ist dem Sachverständigenrat Wirtschaft zufolge eine Schrumpfung des Arbeitsvolumens durch die demografische Entwicklung zwischen 0,5 und 1,5 Prozent pro Jahr zu erwarten, die durch Migration (unterstellt wurde dabei eine Nettozuwanderung von 250000 Menschen im Jahr) und weiter erhöhte Erwerbsquote nur teilweise kompensiert werden kann. Insgesamt aber halten die Experten eine absolute Schrumpfung des Produktionspotenzials, und damit der Wirtschaftsleistung, für "eher unwahrscheinlich". Auch aufgrund der schwachen Produktivitätsfortschritte rechnen die Wirtschaftsweisen aber auch nicht mit stürmischem Wirtschaftswachstum. Bis 2070, so die Projektion, dürfte das Produktionspotenzial pro Kopf um 38 Prozent, und damit um deutlich weniger als ein Prozent pro Jahr, steigen. Zum Vergleich: heute liegt die Wirtschaftsleistung pro Kopf um 135 Prozent höher als 1970.

Statistik: Wanderungen zwischen Deutschland und dem Ausland, 1950 - 2021
Foto: Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung | Dass Deutschland trotz Alterung eine immer größere Bevölkerung hat, liegt an der Migration. Auch zukünftig will die Politik dem Mangel auf dem Arbeitsmarkt mit Zuwanderung - von Fachkräften - entgegenwirken.

Die aktuelle (und auch vergangene) Bundesregierung versucht, den alterungsbedingten Wachstumsproblemen mit erleichterter (Fachkräfte-)Einwanderung beizukommen. So kann man etwa seit 1. Juni eine "Chancenkarte" beantragen, mit der bei entsprechender Qualifikation die Einreise zur Jobsuche vor Ort (also noch ohne Arbeitsvertrag) ermöglicht wird. Bisher ist die Bilanz eher gemischt. Eine Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung aus dem Jahr 2020 identifiziert in der Zusammensetzung der Migration nach Deutschland eine über die Jahre zunehmende Polarisierung. So sei sowohl der Anteil hochqualifizierter Migranten (2018 hatten 34 Prozent einen akademischen Abschluss) als auch derjenigen ohne jede Berufsausbildung (2018: 41 Prozent) auf Kosten der Zuwanderer mit mittlerer Qualifikation gewachsen. Eine Studie des Kieler Instituts für Weltwirtschaft wiederum verweist für die Zukunft auf globale Bildungsfortschritte - weshalb auch die Zahl zuwanderungswilliger hochgebildeter Menschen steige. Das "Migrationspotenzial" Deutschlands werde in den nächsten zehn Jahren unverändert bei 45 bis 50 Millionen Menschen liegen, darunter 15 Millionen Hochqualifizierte, so die Studienautoren 2021. Man müsse die Menschen aber auch von der Attraktivität Deutschlands überzeugen. (jra)

Die Renten sollen nicht sinken

Für die umlagefinanzierte gesetzliche Rente bedeutet die demografische Entwicklung ein hunderte Milliarden Euro schweres Finanzierungsproblem. Die "demografische Atempause" durch die schwächeren Geburtenjahrgänge der Kriegs- und Nachkriegsgeneration ist vorbei; nun gehen die Babyboomer, also die starken Geburtsjahrgänge der späten 1950er und 1960er Jahre in Rente. Dem aktuellen Jahresgutachten des Sachverständigenrates für Wirtschaft (auch "Wirtschaftsweise" genannt)  zufolge standen in Deutschland 2022 einer Person über 65 Jahre noch drei Personen zwischen 20 und 64 Jahren, also im erwerbsfähigen Alter gegenüber, etwa ab 2040 sollen es nur noch zwei sein. Die Altersstruktur ändere sich dabei in den kommenden 15 Jahren in Deutschland "deutlich schneller als im OECD-Durchschnitt".
Durch das in der Koalition immer noch umkämpfte,  jüngst aber schon mal vom Bundeskabinett beschlossene "Rentenpaket II", das ein "Sicherungsniveau" von 48 Prozent bis mindestens 2040 vorsieht - eine sogenannte "Standardrente" soll also weiterhin nicht weniger als 48 Prozent des durchschnittlichen Bruttolohns ohne Sozialabgaben betragen - erwartet die Bundesregierung durch die Alterung eine Steigerung des Beitragssatzes der gesetzlichen Rentenversicherung von derzeit 18,6 Prozent auf 20 Prozent im Jahr 2028 und 22,3 Prozent im Jahr 2035.

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Bereits vor der jetzt geplanten Reform war für 2035 mit Ausgaben für die gesetzliche Rente in Höhe von rund 600 Milliarden Euro gerechnet worden. Durch die Reform rechnet etwa Jochen Pimpertz vom Institut der deutschen Wirtschaft in Köln in einem Kurzbericht mit  630 Milliarden Euro. Im Jahr 2023 lagen die Ausgaben noch bei rund 375 Milliarden Euro. Wird derzeit über ein Fünftel der Ausgaben der gesetzlichen Rentenversicherung durch den Bund bestritten (2023: 81 Milliarden Euro, der größte Posten im Haushalt), sieht Pimpertz den Bundeszuschuss 2035 bei rund 145 Milliarden Euro. In relativen Zahlen betrugen die gesamten Ausgaben für die gesetzliche Rente in Deutschland 2023 bereits 9,6 Prozent, und der Bundeszuschuss 3,1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Nach Prognosen des Sachverständigenrates steigen die Ausgaben und Zuschüsse bis 2035 voraussichtlich auf 10,7 respektive 3,4 Prozent des BIPs.

Statistik: Eerwerbsbevölkerung nach Altergruppen, 1960 - 2050
Foto: Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung | Problem für die gesetzliche Rentenversicherung: die einzahlende Erwerbsbevölkerung wird schrumpfen, die Zahl der Rentner wächst.

Die aktuell anvisierte Reform sieht vor, dass die Rentner keine weiteren Einbußen relativ zum Lohnniveau erleiden sollen. Dafür sollen sowohl Arbeitnehmer als auch die Staatskasse stärker belastet werden. Den Arbeitnehmern kommen dadurch in den nächsten zehn Jahren weitere 3,7 Prozent ihres Bruttolohns abhanden. Die Stabilisierung des Rentenniveaus schützt dabei freilich nicht generell vor Altersarmut, da sich die individuellen Bezüge unverändert an den vorherigen Einzahlungen orientieren.

Nicht berücksichtigt in den Modellrechnungen sind die negativen Konsequenzen steigender Beitragssätze für die Attraktivität des Wirtschaftsstandorts Deutschland. Ob der nun vorgesehene Pfad in der Rentenpolitik politisch haltbar sein wird, wenn sich Unternehmen vom teuren deutschen Standort verabschieden, und gut ausgebildete Arbeitnehmer gleichfalls das Weite suchen (bzw. nicht einwandern), ist fraglich. Möglich, dass dann doch noch empfindliche Kürzungen durch längere Arbeitszeit oder niedrigere Sicherungsniveaus anstehen. Entsprechend urteilte der Wirtschaftsweise Martin Werding im ZDF über das aktuelle Reformvorhaben: "Das Rentenpaket II kündigt im Grunde die Lastenaufteilung zwischen Jung und Alt für die Folgen der demografischen Alterung auf. Ob das gerecht ist, weiß ich nicht. Aber es ist auf jeden Fall eine kurzsichtige Reform." (jra)

Die Pflege droht zu kippen

Laut der Pflegevorausberechnung des Statistischen Bundesamt in Wiesbaden wird die Zahl der Pflegebedürftigen in Deutschland bis zum Jahr 2055 allein durch die zunehmende Alterung der Bevölkerung von derzeit rund fünf Millionen auf mindestens 6,8 Millionen steigen. Modellberechnungen der Wiesbadener Statistiker, die den 2017 eingeführten erweiterten Pflegebedürftigkeitsbegriff berücksichtigten, kommen gar auf 7,6 Millionen pflegebedürftige Menschen bis zum Jahr 2055.

Parallel dazu spitzt sich das Missverhältnis von Pflegekräften, die altersbedingt aus dem Beruf ausscheiden, und nachrückenden Berufseinsteigern in den nächsten Jahren dramatisch zu. Ein Grund: Mehr als 249500 der derzeit rund 1140300 professionell Pflegenden erreichen binnen der nächsten zehn Jahren das Renteneintrittsalter. Laut dem aktuellen Pflegereport der DAK-Gesundheit, für den Wissenschaftler unter der Leitung von Professor Thomas Klie vom Institut AGP Sozialforschung die Auswirkungen der demografischen Entwicklung auf das Pflegesystem untersucht haben, werde die ohnehin "dünne" Arbeitsmarktreserve von derzeit rund 11750 Fachkräften (2,0 Prozent) bis zum Jahr 2030 auf rund 5600 Fachkräfte (0,5 Prozent) abschmelzen. Mit der Folge, dass bereits in fünf Jahren mit Bremen und Bayern die ersten Bundesländer einen Kipppunkt erreichten, an dem der Pflegenachwuchs die altersbedingten Berufsaustritte der Baby-Boomer nicht mehr auffangen könne.

Senioren
Foto: pixabay / Bernd Müller | Für ältere Menschen keine gute Nachricht: Der Pflegemangel dürfte sich verschärfen. Ob und wie für alle gesorgt werden kann, ist fraglich.

"Wir haben trotz guter Ausbildungszahlen keinen Puffer gegen die berufsdemografischen Dynamiken in der Pflege", erklärt Thomas Klie, Pflegeexperte und Studienleiter des Instituts AGP Sozialforschung. "Ein Ausbau der Personalkapazitäten in der Pflege wird demografiebedingt nicht gelingen." Mithilfe von Wiedereinsteigerprogrammen, Zuwanderung und Qualifizierungsstrategien ließen sie sich "bestenfalls stabil halten".

Erschwerend hinzu kommt die überdurchschnittlich große gesundheitliche Belastung des Pflegepersonals. Nirgendwo ist die so hoch wie in der Altenpflege. Vor allem Erkrankungen des Bewegungsapparates und psychische Belastungen seien ursächlich für durchschnittlich über 50 Fehltage von Beschäftigten in der Altenpflege in der Altersgruppe ab 58 Jahren. Zum Vergleich: In anderen Berufsgruppen in dieser Alterssparte seien es lediglich rund 30 Fehltage (2022).

"Die Personalsituation in der Pflege ist alarmierend und wird durch die Renteneintritte der Baby-Boomer vor weitere große Herausforderungen gestellt. Die Zahl der Fachkräfte sinkt rapide und hat schon jetzt regionale Engpässe zur Folge. Mittelfristig wird dieser Mangel so gravierend, dass unser Pflegesystem an seine Belastungsgrenze kommt", erklärt Andreas Storm, Vorstandsvorsitzender der DAK-Gesundheit, die mit 5,5 Millionen Versicherten die drittgrößte Krankenkasse Deutschlands ist. (reh)

Bildung: Ein Ende des Lehrermangels?

Naturgemäß ist einer der ersten Bereiche, in denen sich steigende oder sinkende Geburtenzahlen bemerkbar machen, die Schulbildung. Nachdem die Geburtenzahl ab 2011 in Deutschland leicht anstieg und sich zwischen 2016 und 2021 vor allem in Westdeutschland und den Stadtstaaten im Vergleich zu den Vorjahren auf einem relativ hohen Niveau bewegte, geht sie seit 2021 stark zurück. In der Folge wird auch die Grundschülerzahl ab 2027 zunehmend sinken. Die im Februar 2024 veröffentlichte Studie "Weniger Geburten   mehr Lehrkräfte. Spielraum für die Grundschulentwicklung" der Bertelsmann-Stiftung prognostiziert, dass der aktuelle Lehrkräftemangel in der Primarstufe nur bis 2025 andauert und anschließend einem Überhang an zur Verfügung stehenden Lehrkräften weichen wird. Sinkt die Schülerzahl, sinkt auch der Lehrerbedarf, setzt man den bisherigen Personalschlüssel voraus. Eine gute Nachricht für die Länderhaushalte? Nein, denn es wäre geboten, die durch einen Rückgang der Schülerzahl freiwerdenden Mittel in die Schulbildung zu reinvestieren   nicht nur, weil Deutschland in den PISA-Studien immer katastrophalere Ergebnisse einfährt, sondern auch, weil bei sinkender Geburtenzahl der Anteil besser qualifizierter Schulabgänger dringend erhöht werden müsste, um die Bedarfe des Arbeitsmarktes wenigstens notdürftig zu decken.

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Ähnlich lautet auch die Botschaft der Bertelsmann-Studie, umso mehr, als dass es sich bei den aktuell sinkenden Geburtenziffern nicht um eine zyklische Delle, sondern um einen echten Einbruch handeln dürfte. Das prognostiziert auch Studienleiter Dirk Zorn im Gespräch mit dieser Zeitung. "Für das Schulsystem ist es eine Atempause, wenn jetzt absehbar ist, dass die Grundschullehrkräfte in einigen Jahren wieder ausreichen, um unsere Kinder zu beschulen. Was aber dahintersteht, nämlich dass wir einen dramatischen Rückgang in den Geburtenzahlen haben, sollte uns als Gesellschaft zutiefst erschüttern." Es frappiere ihn, wie wenig thematisiert werde, dass Deutschland offenbar ein Land sei, in dem sich immer weniger Menschen dafür entscheiden, Eltern zu werden. "Das ist eigentlich eine Debatte, die wir führen müssten", so der Sozialwissenschaftler. Seine Sorge ist, dass das Thema Bildung in den politischen Verteilungskämpfen immer stärker ins Hintertreffen gerät, "weil andere Ausgaben als wichtiger oder dringender erachtet werden und Kinder und ihre Rechte politisch oft eher unter ,ferner liefen  rangieren". Dabei sei es das Gebot der Stunde, die durch sinkende Schülerzahlen entstehende "demografische Rendite" eben nicht als Sparpotenzial zu nutzen, sondern, um in die pädagogische Qualität zu investieren. Dies gilt umso mehr, als dass die steigende Zahl an Kindern mit Migrationshintergrund im deutschen Schulsystem besonders schlecht wegkommen   auch das belegen die PISA-Ergebnisse. "Unser Schulsystem ist auf die wachsende Vielfalt, die sich nicht nur an den kulturellen Hintergründen, sondern auch an anderen Faktoren festmacht, noch nicht ausreichend eingestellt", bestätigt auch Zorn.

Grundschule
Foto: DALIBRI, CC BY-SA 3.0 , via Wikimedia Commons | Sind die Klassenzimmer bald leer? Das nicht, aber eine Entspannung beim Lehrermangel ist zu erwarten - die Geburtenzahlen werden weiter sinken. Eine gute Nachricht ist das allerdings nicht.

Langfristig ist mit noch viel radikaleren Veränderungen des Bildungssektors zu rechnen, wie ein Blick in die ostdeutschen Bundesländer vorausahnen lässt, wo die Geburtenzahlen bereits seit Längerem sinken und gleichzeitig vor allem in den ländlichen Gebieten ein dramatischer Lehrermangel herrscht. "Dort denkt man viel grundsätzlicher darüber nach, wie man einzelne Landstriche überhaupt noch so attraktiv halten kann, dass sie sich nicht komplett entvölkern", erklärt Zorn. In Sachsen-Anhalt erwäge man bereits die Idee, an konzentrierten Standorten Schulzentren mit Internatsbetrieb zu gründen. Auch hybride Lernformate mit digitalen Anteilen und flexiblen Lernsettings vor Ort seien mancherorts in der Überlegung. Eine mögliche Öffnung hin zum Homeschooling? Für ausgeschlossen hält Dirk Zorn das nicht. Klar ist für ihn aber vor allem eines: "Es braucht einen gesellschaftlichen Schulterschluss, der das gesamte Bild sieht: Wir müssen Familien-, Jugend-, Sozial- und Bildungspolitik viel stärker zusammendenken und als Gesellschaft endlich erkennen, dass Kinder und Familien wichtig sind und Unterstützung brauchen." (fha)

Die Kosten des Wandels sind gewaltig 

Blendet man die schon jetzt dramatische Lage in der Pflege für einen Moment aus, so hören sich viele Zahlen zum demografischen Wandel nicht übermäßig spektakulär an. Hier zwei Prozentpunkte mehr bei der Bevölkerung über 64, dort drei Prozentpunkte mehr beim Rentenbeitragssatz, eine Abhängigenquote wie zuletzt in den 1980er Jahren   macht das wirklich so einen Unterschied? Doch hinter solchen Verschiebungen stecken gewaltige Summen. Das macht etwa der letzte "Tragfähigkeitsbericht" zur Entwicklung der Staatsfinanzen deutlich, den das Finanzministerium 2024 veröffentlicht hat. Selbst in der pessimistischen Projektion gehen die Autoren von einer Geburtenziffer von 1,44 aus - deutlich mehr als aktuell. Darunter würde sich die Verschuldung des Bundes aufgrund der Entwicklung der demografieabhängigen Ausgaben bis 2070 auf 365 Prozent der Wirtschaftsleistung erhöhen (derzeit rund 64 Prozent). Voraussetzung dafür wäre, dass vom Gesetzgeber bei den Ausgaben nicht gegengesteuert, dafür aber die Schuldenbremse suspendiert wird.

Angesichts dieser düsteren fiskalischen Wolken, die keineswegs erst am fernen Horizont aufziehen, bedarf es keiner Prophetie, um zu schlussfolgern, dass viele der derzeit diskutierten politischen Visionen wohl keinen Bestand haben können. Eine echte Zeitenwende für die Bundeswehr inklusive Personalaufwuchs und Ausgaben von zwei Prozent der Wirtschaftsleistung  - das klingt ebenso schwer erreichbar wie der staatlich beförderte CO2-neutrale Totalumbau der Energieinfrastruktur, um nur zwei Projekte zu nennen, für die ebenfalls hunderte Milliarden Euro investiert werden müssten. An der Wahlurne aber dürfte die Perspektive der bald oder schon jetzt in Rente befindlichen Bürger entscheidend sein, die sich für "strukturelle Reformen", sprich Rentenkürzungen als naheliegendster Konsolidierungsmaßnahme der öffentlichen Finanzen, wohl kaum werden erwärmen können. Fazit: Der demografische Wandel verstärkt absehbar die Verteilungskonflikte in Politik und Gesellschaft, und verkleinert die finanziellen Spielräume. Der Punkt, an dem Deutschland sich entscheiden muss, worauf es verzichten will, steht vor der Tür - nicht irgendwann, sondern jetzt. (jra)

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