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Die Stickerinnen vom anderen Ende der Welt

Im abgehängten nordbrasilianischen Sertão ist nicht viel los. Eine Gruppe begabter Frauen macht mit ihren Stickkünsten dennoch weithin von sich reden.
First Lady "Janja" im Hochzeitskleid
Foto: gemeinfrei | Glamour aus der Provinz für die Metropole: Höhepunkt des bisherigen Schaffens der Savannen-Stickerinnen ist das Hochzeitskleid der Präsidentengattin - inspiriert von klaren Sertao-Nächten.

Es gibt nichts, was den Ort im Seridó in der Halbtrockensteppe Nordostbrasiliens optisch auszeichnen würde: Das lieblos zusammengewürfelte Konglomerat von Bauten aller Art, das einen nach stundenlanger Bus- oder Autofahrt durch die öde Halbtrockensteppe erwartet, kann keinen Schönheitspreis für sein Ortsbild gewinnen. 300 Kilometer landeinwärts der Küstenstadt Natal am Atlantik gelegen, zählt der Ort Timbaúba dos Batistas knapp 2 500 Seelen. Auffällig und außergewöhnlich ist hier einzig ein lachsfarben gehaltenes, modernes Haus im Zentrum, mit geschwungener Fassade, auf welcher in schwarzen Lettern die Bezeichnung „Casa das Bordadeiras“ prangt. Es ist das Haus der Stickerinnen und wird vor allem für Kurse, Veranstaltungen und für den Verkauf genutzt. Die Stickerei erledigen die Frauen, denen sich der Ruhm des Örtchens verdankt, immer noch bei sich zuhause.

Die Stickerinnen von Timbaúba sind für die exquisite Qualität ihrer Arbeit inzwischen landesweit und selbst im Ausland ein Begriff. Sie stickten zum Beispiel die Tischdecke für den Tisch von Papst Benedikt XVI. bei seinem Besuch in Brasilien im Mai des Jahres 2007. Und vorletztes Jahr war das wunderhübsch bestickte Hochzeitskleid der künftigen Präsidentengattin beste Referenz für die Frauen. Und ihr Kunstschaffen macht seinen Weg auch hinaus in die weite Welt – als beliebtes textiles Souvenir in den Koffern von Touristen, die Brasilien besuchen.

„Ein Drittel aller Werktätigen hier ist mit Sticken beschäftigt“, weiß Iranilda Batista von der Frauen-Kooperative der Stickerinnen zu berichten. Und die Männer im Ort, sticken die auch? – „Wir wissen nur von dreien, die es können“, schmunzelt Iranilda. Die Kunstfertigkeit werde seit Generationen von Großmüttern, Müttern und Tanten an die heranwachsenden Mädchen weitergegeben, erklärt sie. Das Sticken erfordere Kunstsinn, Disziplin und Geduld. Diese Tugenden sehen die älteren Frauen in der Casa das Bordadeiras zunehmend in Gefahr. „Die jungen Mädchen heute greifen lieber zum Handy als zum Stickhäklein. Sie wollen Tik-Tok schauen und online Spielchen machen“, beklagen sie.

Volksnähe für die First Lady

Wie kam es, dass hier im bescheiden landwirtschaftlich geprägten Innenland in Südamerika einst solch kunstvolle Handarbeit entstand? Ethnologen sind der Meinung, dass die Ursprünge dieser Art der Stickerei auf der portugiesischen Insel Madeira zu finden seien. Die mit ihren Ehemännern auswandernden Frauen dürften diese Kunst während der Kolonialisierung des neuen Kontinents von dort mitgebracht haben. Nachdem die indigene Bevölkerung im Innenland zurückgedrängt worden war, wagten sich Kolonisten aus Portugal gelegentlich nomadisch mit Viehherden in diese Region vor. Erst etwa Mitte des 18. Jahrhunderts ließen sich erste Familien endgültig hier nieder. Major José Batista Santos nahm sich hier Land für seine Fazenda Timbaúba.

Und wie kam es, dass die Frauen von dort aktuell für das Sticken des vielgerühmten Brautkleides erkoren wurden? Der gegenwärtige Präsident Brasiliens, Ignacio Lula da Silva, ist zwar erst seit Januar 2023 wieder im Amt, aber schon zum Zeitpunkt der Eheschließung des Witwers mit der Soziologin Rosângela im Mai 2022 war zu erahnen, dass er im Oktober realistische Chancen gegen den damals amtierenden Präsidenten Jair Bolsonaro haben würde. Schon das Hochzeitskleid der liebevoll „Janja“ genannten zukünftigen Präsidentengattin sollte die Verbundenheit mit dem Volk zeigen.

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Darum schlug die Stylistin und Modeschöpferin Helô Rocha die Stickerinnen aus dem Dorf im Innenland vor, mit welchen sie bereits seit 2017 eine Partnerschaft pflegte. Der jungen Stickerin Valdineide Dantas, genannt „Patinha“ kam – vorerst noch geheim – die ehrenvolle Aufgabe zu, den Entwurf zu liefern. Sie ließ sich inspirieren von Mond und Sternen, die in den Sertão-Nächten viel intensiver leuchten als im Lichtersmog in Stadtnähe – und von der kargen Vegetation ihrer Heimat, den Mandacarú- und Xique-Xique-Kakteen, deren weiße Blüten sich ebenfalls erst in der Nacht öffnen.

Übersee stickt nach Richelieus Vorgaben

Die Arbeit einer Weißstickerin beginnt mit der Übertragung der Vorzeichnung vom Papier auf den Baumwollstoff. Ein eingefärbtes Stachelrädchen wird entlang der Linien auf dem Papier geführt, wodurch kleine Löcher entstehen, durch die das Blau der Tinte das Design auf den darunterliegenden Stoff punktiert wird. Diese Konturen dienen nun als Orientierung für die Arbeit mit Nadel und Faden. Es wird sowohl von Hand gestichelt als auch mit Tretnähmaschinen. Die Frauen kennen fünf verschiedene Stiche, die mit Nadel oder Häklein gemacht werden. Ein weiterer, der Kettenstich, wird hier in der Regel mit der Nähmaschine gemacht. Es sind es Uralt-Modelle der Marke Elgin im Einsatz, die aber von den Stickerinnen mit stupendem Geschick gehandhabt werden. Der Arbeitsbereich ist immer in einen Stickreifen eingespannt, damit der Stoff schön flach und straff liegt.

Die Stickerinnen mit ihrem Produkt
Foto: gemeinfrei | Stolze Stickerinnen: Schöpferin des Hochzeitskleides ist "Patinha", zweite von links.

Das fachmännische – oder besser fachfrauliche – Auge wird beim Betrachten des berühmten Brautkleides feststellen, dass es sich hier um eine Ausschnittstickerei handelt, die Richelieu-Stickerei genannt wird. Dabei wird mit Festonstich (auch Languetten- oder Schlingstich genannt) die Kantenlinie einer künstlerischen Form dick nachgestickt. Daraufhin kann der Stoff unter der Kante des Festonstichs vorsichtig ausgeschnitten werden. In diesen Ausschnitt wird dann eine andersartige Struktur gehäkelt. Diese Stickerei ist nach dem französischen Kardinal Richelieu (1585 - 1642) benannt. Aber wie wird ein Kirchenfürst des 17.Jahrhunderts zum Namensgeber für eine Textilarbeit? Die Stickerei wurde von Richelieu eingeführt als preisgünstigerer Ersatz für die „Nadelspitze“. Die Technik der Nadelspitze war im 16. Jahrhundert in Venedig von dortigen Stickerinnen erfunden worden. Sie war zwar wunderschön, aber immens aufwändig und zeitraubend. Der Kardinal beschied, dass für liturgische Gewänder die Ausschnittstickerei anzuwenden sei.

Reinheit und Frivolität

Wir wissen ja, dass im Verlauf der Jahrhunderte die Textilspitze gelegentlich nahezu mythische Dimensionen annahm. Mit Spitzen assoziierte man sorgfältige, geduldige und hingebungsvolle Frauenarbeit. Zugleich stand – und steht – Spitze für einen charmanten Reiz und nicht selten für etwas Frivolität. Sie zeigt Aspekte im Geschlechterverhältnis auf: den Wunsch nach Reinheit und Jungfräulichkeit, beim Brautschleier etwa, aber auch verspielten erotischen Reiz, in der Form von schwarzer Spitzenunterwäsche zum Beispiel.

Zum Amtsantritt des Präsidenten Brasiliens am 1. Januar 2023 zog die neue First Lady dann erneut die Blicke auf sich – in einem Hosenanzug mit Stickereien, wiederum von den Frauen der Kooperative im Nordosten. „Vor ein paar Jahren hätte ich mir in den kühnsten Träumen nicht vorstellen können, je Kleider einer First Lady zu besticken“, meint „Patinha“ Valdineide Dantas, selig lächelnd.

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