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Deutschlands „solidester Haushälter“

Kurz vor seinem Tod schloss der Ausnahmepolitiker Wolfgang Schäuble seine Autobiografie „Erinnerungen“ ab: Sie vermittelt einzigartige Einsichten in das politische Innenleben der Bundesrepublik in der Ära Kohl & Merkel.
Das erste gesamtdeutsche Bundeskabinett, einschließlich Helmut Kohl, Angela Merkel, Theo Waigl und Wolfgang Schäuble
Foto: imago stock&people via www.imago-images.de (www.imago-images.de) | Im Zenit seines politischen Lebens: Wolfgang Schäuble als Innenminister im Januar 1991 inmitten des ersten gesamtdeutschen Kabinetts.

Wolfgang Schäuble gehört zu den politischen Ausnahmegestalten der bundesdeutschen Geschichte. Allein die Vielfalt seiner hohen Ämter und Funktionen scheint einzigartig. Als Basis seiner politischen Arbeit fungierte zunächst sein stets direkt errungenes Bundestagsmandat. Niemand gehörte länger als Abgeordneter zum höchsten Verfassungsorgan als Schäuble (1972-2023). Im Jahr 1991 wählten ihn die Mitglieder der CDU/CSU-Bundestagsfraktion auf Vorschlag Helmut Kohls sogar zu ihrem Vorsitzenden. Politische Erfahrungen sammelte Schäuble ebenfalls nicht nur als CDU-Bundesvorsitzender (1998-2000), sondern auch als Bundesminister im Kanzleramt und in klassischen Ressorts wie dem Innen- und dem Finanzministerium. Seine politische Laufbahn krönte er, indem er sich 2017 zum Präsidenten des Deutschen Bundestags wählen ließ. Dadurch errang er das, zumindest protokollarisch, zweithöchste Amt der Bundesrepublik.

Kurz vor seinem Tod Ende 2023 schaffte es Schäuble, seine Erinnerungen fertigzustellen. Darin berichtet er unter anderem über sein Elternhaus, seine Kindheit, seine Jugend, seine politischen Anfänge, seinen Aufstieg zu einem lange Zeit sehr engen und loyalen Mitstreiter des Bundeskanzlers, seine Tätigkeit im Prozess der Wiedervereinigung, den Schicksalsschlag des Attentats auf ihn 1990, seine Rolle als CDU-„Kronprinz“, die CDU-Spendenaffäre, sein Zerwürfnis mit Helmut Kohl, seine Zusammenarbeit mit Angela Merkel und seine Differenzen mit der ersten Bundeskanzlerin. Daneben liefert er – in Kurzform – pointierte Porträts einiger Freunde, Weggefährten, Partner, Konkurrenten und Gegner aus verschiedenen Parteien.

Komplizierte Beziehung zu Kohl und Merkel

Zu den Schwerpunkten des Buches gehört es, wie Schäuble seine jeweils komplizierte Beziehung zu Helmut Kohl und Angela Merkel schildert. Ohne seine Kritik an Kohl unter den Teppich zu kehren, würdigt Schäuble etwa die politische Führungsstärke des Kanzlers der deutschen und europäischen Einigung, der bereits 1983 gegen massive Widerstände aus der Opposition und der sogenannten „Friedensbewegung“ die NATO-Nachrüstung in der Bundesrepublik politisch durchsetzte – als eine Reaktion der militärischen und politischen Stärke auf die sowjetische Vorrüstung.

Ebenfalls habe Kohl trotz heftiger Gegenwehr stets sowohl am Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes festgehalten als auch später an der Einführung des Euro. Bis zum Mauerfall habe Kohl darüber hinaus unbeirrt darauf gedrungen, die Erfassungsstelle in Salzgitter weiter zu finanzieren. Demgegenüber wollten einige Ministerpräsidenten aus der SPD die Einrichtung, die SED-Verbrechen dokumentierte, gern schließen, um damit eine Forderung des SED-Unrechtsregimes zu erfüllen. Dass in den letzten Jahrzehnten nicht nur SPD-, sondern auch Demokraten aus anderen Parteien, darunter Unionspolitiker, gelegentlich manifeste Menschenrechtsverletzungen in anderen Ländern der Welt übergingen und ignorierten, erwähnt Schäuble ebenfalls.

Kritisch bewertet Schäuble den meist eher konsensualen, wenig forschen Politikstil sowohl Kohls als auch Merkels in vielen Fragen. Hierzu stellt sich die Frage, inwieweit das politische System der Bundesrepublik, mit seinen – aus historischen Gründen – besonders vielen checks and balances, einen solchen Politikstil nahelegt, unter anderem durch den faktischen Koalitionszwang, durch die zunehmende Tendenz zum Vielparteiensystem, durch die grundsätzlich starke Rolle des Bundesrates, des Bundesverfassungsgerichts und der Tarifpartner. Im Kontrast zu oberflächlichen Klischees über einen angeblichen  Reformstau zum Ende der Ära Kohl habe dessen Regierung immerhin kurz vor der Bundestagswahl 1998 ein viel gescholtenes Paket für mehr Wachstum und Beschäftigung parlamentarisch durchgesetzt, das die Nachfolgeregierung erst zurückgedreht habe, um es dann kurze Zeit später in modifizierter Form notgedrungen wieder einzuführen.

Lob für die Modernisierung der CDU

An Merkel lobt Schäuble, wie sie die CDU weiter modernisiert, für neue Wählersegmente geöffnet und die Bundesrepublik als Kanzlerin durch viele Großkrisen letztlich erfolgreich gesteuert habe. Im Einklang mit Kohl und Merkel plädiert Schäuble dafür, die CDU solle weiterhin mit prinzipienfestem Pragmatismus eine Politik der Mitte betreiben. Daher gehe es künftig verstärkt darum, sowohl den wirtschaftlichen als auch den sozialen Parteiflügel stark zu halten, ohne das konservative Element zu vernachlässigen. Als einen der bedeutendsten Unionspolitiker der letzten Jahrzehnte charakterisiert Schäuble den langjährigen CSU-Parteichef, engen Mitstreiter Kohls und Bundesfinanzminister Theo Waigel. Dessen hohen Anteil am Erfolg der Wiedervereinigung und der Einführung des Euro würdigt er ebenso wie dessen politisch-strategische Urteilskraft und persönlichen Anstand.

Heutigen und künftigen Politikern liefert Schäuble, der sich selbst eine „Neigung zur Rechthaberei“ attestiert, einige Merksätze von zentraler Bedeutung. So drohe „Friedfertigkeit, die sich selbst wehrlos macht..., als Einladung zur Aggression missverstanden zu werden. Pazifismus in diesem Sinne bringt nicht mehr Frieden“, sondern begünstige Diktatoren. Daher habe er frühzeitig darauf gepocht, im Widerstreit vor allem mit „progressiven“ Parteien, das NATO-Zwei-Prozent-Ziel zu erfüllen. Als einen Hauptgrund, warum Putin die Ukraine überfallen habe, nennt Schäuble treffend die Furcht des Diktators, eine Ausbreitung von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Wohlstand in seinem angeblichen Vorgarten könne auch bei vielen Russen eines Tages verstärkt die Frage aufwerfen, warum sie nicht auch so leben können. Das könnte Putins Diktatur beenden.

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Mit Stolz erinnert Schäuble daran, als Bundesfinanzminister unter gewiss günstigen Bedingungen als „solidester Haushälter“ in der Geschichte der Bundesrepublik agiert zu haben. Genau zu einer solchen Politik der auch haushaltspolitischen Nachhaltigkeit rät er weiterhin, damit ein zu hoher Schuldendienst keine Investitionen in Zukunftsprojekte verhindert. In der Migrationspolitik wirbt der langjährige Bundesinnenminister Schäuble für eine Politik mit „Herz und Härte“. Um das Schleuserwesen zu bekämpfen, das Sterben im Mittelmeer zu beenden und Probleme bei Abschiebungen erst gar nicht entstehen zu lassen, könnte es auch laut Schäuble sinnvoll sein, menschenwürdige und durch Europa finanzierte Zentren zur Asylprüfung in Nordafrika einzurichten.

Deutlich kritisiert Schäuble die konkreten Versuche der aktuellen Koalition, das Wahlrecht zu ändern. Zwar teile er das Ziel, die Zahl der Abgeordneten zu reduzieren. Doch wer ein Wahlrecht schaffe, das einige Wahlkreissieger nicht ins Parlament bringe, täusche Wähler und missbrauche seine Mehrheit. Das gilt ebenfalls für das Vorhaben, die Grundmandatsklausel abzuschaffen. Dadurch könnte selbst die CSU, wenn sie bundesweit unter fünf Prozent landen sollte, den Einzug in den Bundestag komplett verfehlen, auch wenn sie in Bayern alle Direktmandate gewonnen hätte. Für umso wichtiger hält er die laufende Prüfung der Pläne durch das Bundesverfassungsgericht.

Trotz Strategiedefizit viel erreicht

Für einen Politiker, der seine „strategischen Fähigkeiten in eigener Sache wenig ausgeprägt“ nennt, hat Schäuble viel erreicht. Neben und nach Konrad Adenauer, Helmut Kohl und Angela Merkel gehört er zu den prägenden CDU-Politikern in der Geschichte der Bundesrepublik. Wie wenige Politiker zählt er zu den maßgeblichen Mitgestaltern wegweisender Weichenstellungen. In hohen Funktionen diente er damit über Jahrzehnte der rechtsstaatlichen Demokratie.

Im Ergebnis gewährt das flüssig formulierte Buch des engagierten Europäers und Atlantikers einzigartige Einsichten aus nächster Nähe in das politische Innenleben der Bundesrepublik mit zum Teil wenig bekannten Details. Es bilanziert Schäubles politische Überzeugungen, Erfolge, Irrtümer und Niederlagen. Nebenbei widerlegt es einige Legenden über bundesdeutsche Politik in den letzten fünfzig Jahren. Letztlich liefert das zeithistorische Werk ersten Ranges einen wichtigen Beitrag, um das politische Gefüge und Geschehen der Bundesrepublik in den letzten Jahrzehnten zu erklären und zu verstehen.


Wolfgang Schäuble: Erinnerungen. Mein Leben in der Politik. Klett-Cotta, Stuttgart 2024, 656 Seiten, Hardcover, EUR 36,–

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