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"Verbotene Bücher": Die Hölle, das sind immer die Anderen

Urs Buhlmann beschreibt, warum Jean-Paul Sartre als einer der letzten Autoren auf dem vatikanischen Index landete.
Jean Paul Sartre (1905-1980)
Foto: via www.imago-images.de (www.imago-images.de) | Sartre bei einer Pressekonferenz 1970. Dass sein Werk auf dem vatikanischen Index landete, wird ihn wohl eher bestätigt haben. Inhaltlich jedoch hatte die Kirche recht, ihn zu ächten, schreibt Urs Buhlmann.

Nach ein paar Zeilen hält man erst einmal inne und wundert sich über den polemischen Ton, der angeschlagen wird und der längst vergangene Schlachten vor das geistige Auge ruft: „Ist der Existenzialismus ein Humanismus?“, der Essay Jean-Paul Sartres von 1946, ist im Duktus angriffslustiger Verteidigung geschrieben. Gegen zwei Gegner meinte sich Sartre sich vehement zur Wehr setzen zu müssen, er benennt sie in Zwischenüberschriften: „Die Kritik der Marxisten“ und „Die Kritik der Katholiken“.

Dass er sich später wieder von diesem, zunächst als Vortrag konzipierten Text distanzierte, ist angesichts des hier betriebenen rhetorischen Aufwands erstaunlich. Wogegen wollte Sartre sich verteidigen? Der Existenzialismus, ein Kind des Nachkriegs-Frankreichs der späten 40er- und 50er-Jahre, vermochte es, binnen kurzem zur breit diskutierten philosophischen Bewegung werden und zugleich zu einem popkulturellen Phänomen, das auch die anzog, die es womöglich gar nicht oder falsch verstanden: Mit dem Rollkragen-Pullover als Unisex-Uniform der Conoscenti und den langen Nächten in den Jazz-Kellern von St.-Germain-des-Prés als Habitus.

Der Mensch ist für sich selbst verantwortlich

Doch ist die Grundthese vom Geworfensein des Menschen in seine Existenz viel älter als seine damalige zeitgeistige Ausformung: Schon ein Pascal und danach ein Kierkegaard (in Ablehnung an Hegels Idealismus) sahen den Menschen zunächst allein im Universum auf der Suche nach Selbststand. Die gelebte Existenz als Ausgangspunkt ist sowohl der christlichen wie der von Sartre vertretenen nicht-christlichen Variante zu eigen. Sartre sagt, dass „wenn Gott nicht existiert, es mindestens ein Wesen gibt, bei dem die Existenz der Essenz vorausgeht, ein Wesen, das existiert, bevor es durch irgendeinen Begriff definiert werden kann und dass dieses Wesen der Mensch (...) ist. Was bedeutet, dass der Mensch zuerst existiert, sich begegnet, in der Welt auftaucht und sich danach definiert“.

Der Unterschied zur christlichen Sicht ist offensichtlich: Bei Sartre scheint der Mensch sich seiner selbst zu verdanken und er ist allein sich selbst verantwortlich. Auch in der Weise, in der er agieren will, ist er autonom: „Also gibt es keine menschliche Natur, da es keinen Gott gibt, um sie zu entwerfen. Der Mensch ist lediglich so, wie er sich konzipiert (...) der Mensch ist nichts anderes als wozu er sich macht.“ Das wiederholt der Autor einige Male in seinem Essay und verwendet originelle Vergleichsbilder, wenn er dieses sich selbst ins Dasein rufende Wesen vom Schaum, von der Fäulnis oder einem Blumenkohl abhebt. Es folgt für ihn aus dem Akt der Selbstschöpfung im Weiteren eine große Verantwortlichkeit des autonomen Menschen, die man in dem schlichten Satz zusammenfassen kann: Jeder ist seines Glückes Schmied. Oder in den Worten des Franzosen: „Wenn wirklich die Existenz der Essenz vorausgeht, so ist der Mensch verantwortlich für das, was er ist.“

Die Kommunisten machte er nicht glücklich

Er ergänzt, wohl, um sich gegen den Vorwurf einem monadenhaften Subjektivismus zu verteidigen: „Wenn wir sagen, dass der Mensch für sich selbst verantwortlich ist, so wollen wir nicht sagen, dass der Mensch gerade eben nur für seine Individualität verantwortlich ist, sondern dass er verantwortlich ist für alle Menschen.“ Er fährt fort: „Indem wir sagen, dass der Mensch sich wählt, verstehen wir darunter, dass jeder unter uns sich wählt; aber damit wollen wir ebenfalls sagen, dass er, indem er sich wählt, er alle Menschen wählt.“ Es ist eine etwas überraschende Wendung hin zu einer Art Karikatur des kantischen Imperativs, wenn Sartre diesen Abschnitt schließt: „Was wir wählen, ist immer das Gute, und nichts kann für uns gut sein, wenn es nicht gut für alle ist“.

Auch die vom revolutionären Vorwärtsdrang geprägten Kommunisten – von denen Sartre, ursprünglich Sympathisant, sich im Laufe des Lebens abzugrenzen suchte – machte er damit nicht glücklich, eben weil die Ausgangsposition nicht die gleiche war: Sie warfen Sartre Subjektivismus vor, wo sie doch vom „Wir“ der Klasse ausgingen. Wenn man aber sieht, dass Sartre in seinem Essay sich viel öfter auf die christliche Position bezieht, scheint er dort die stärkeren Bataillone und Gegner zu vermuten.

Der Hauptgegner: Das Christentum

Bemerkenswert zunächst, dass er ohne Weiteres die Existenz eines christlich inspirierten Existenzialismus anerkennt. Er nennt besonders die Namen von Karl Jaspers und Gabriel Marcel. Kann auch der evangelisch geprägte Jaspers kaum als Christ, eher als „aktiver Agnostiker“ bezeichnet werden, war der als Sohn einer jüdischen Mutter zum Katholizismus konvertierte und auch als Bühnenautor hervortretende Marcel in einer festen Gottesbeziehung verwurzelt. Beiden wirft Sartre vor, dass bei ihnen „die Erzeugung der Existenz vorausgeht“, nicht schicklich für jemanden, der den Menschen aus sich selbst hervorzubringen trachtet. Für ihn ist vielmehr klar: „Der Mensch schafft sich, er ist nicht von Anfang an fertig geschaffen; er schafft sich, indem er seine Moral wählt.“ Das steht konträr zum christlichen Naturrechtsgedanken.

An anderer Stelle sagt Sartre, es könne Moral nur „in konkreten Situationen“ geben und der Mensch entscheide jeweils darüber, wie sie sich dann ausforme. Marcel dagegen – überzeugt davon, dass in der Moderne das „Haben“ wichtiger als das  „Sein“ geworden sei – hält dagegen, dass der Freiheits-Begriff nicht autonom gesetzt werden könne, sondern mit Liebe, Hoffnung und Treue angereichert werden müsse, damit er nicht entarte. Das konnte er sagen, weil ihm Gott als „absolutes Du“ gewiss war, das allein die Zerrissenheit des Menschen heilen könne. Wie Sartre sagt Marcel: „Ich wohne nicht einem Schauspiel bei.“ Auch er fordert dazu auf, sich täglich einzusetzen (s'engager). Aber er kennt das Du und weiß, was es, vielmehr, wer es ist, während Sartre im Ich stecken bleibt.

Unterbrochene Gottesbeziehung

Der strafende Gott seiner Kindheit hatte Sartre den Glauben verunmöglicht. Im Drama „Die Fliegen“, eine Parodie der Atriden-Tragödie, nimmt er das Thema auf; die allgegenwärtigen Insekten sind Symbole der Schuld und der Angst, von denen man sich befreien muss. Danach ist man allerdings, in seinen eigenen Worten, als „Reisender ohne Fahrkarte“ unterwegs. Sartre sagt: „Selbst wenn es einen Gott gäbe, würde das nichts ändern (...) Der Mensch muss sich selbst wiederfinden und sich überzeugen, dass ihn nichts vor sich selber retten kann, wäre es auch ein gültiger Beweis der Existenz Gottes“.

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Das wird aus christlicher Sicht der Hauptkritikpunkt an Sartre sein: Die unterbrochene Gottesbeziehung – aus seiner Sicht die Beziehung zu jemandem, der nicht existiert – vermag er nicht überzeugend zu füllen mit einer gleichwertigen Beziehung zu wem auch immer. Wenn der Mensch „macht“, was er ist, dann ist dieser Humanismus ein „Egoismus der menschlichen Ichheit“. Der zeitgenössische deutsche Kommentator Walter Schmiele fragt, wie das denn gehen solle, „die Entscheidung des einsamen Individuums, das kein moralisches Gesetz in sich vorfindet und an den gestirnten Himmel über ihn nicht glaubt“. Schmiele fiel bereits 1968 auf, dass der abrupte Überschritt bei Sartre, demnach der individuelle Akt die ganze Menschheit binde, nicht überzeugend sei.

Er erklärt diesen kantischen Anklang mit der Situation, vor der sich der Autor in den brodelnden politischen Clubs des Nachkriegs-Paris gestellt sah, in denen er sein Konzept vorstellte: „Es galt das Missverständnis zu zerstreuen, Existenzialist sein bedeute so viel wie sich aus Überzeugung ausleben. Es galt, die Freiheit der Entschlossenheitsethik irgendwo zu begrenzen, zu zeigen, dass sie nicht einfach die Freiheit der Libertinage sei.“

Widersprüche, die zum Himmel schreien

Doch bringe sich Sartre mit seiner unverhofften Wendung hin zur Gemeinschaft in einen Widerspruch zu sich selbst. Man könne nicht auf der einen Seite kategoriale Werte, die unabhängig von einem selbst existieren, negieren, zugleich aber den in Freiheit wählenden Einzelnen zum Gesetzgeber aller promovieren – der Autor also als ein sich verfehlender Moralphilosoph!

Vollends heikel wird es, wenn Sartre – an anderem Ort, in der „Kritik der dialektischen Vernunft“ von 1960 – postuliert, dass alle guten Ideen nur auf dem Mutterboden der marxistischen Lehre („sur cet humus“) gedeihen können, weil eben die gesellschaftlichen Verhältnisse, die den Marxismus hervorbrachten, sich noch nicht geändert hätten: So wird also der Ort, an dem der angeblich freie Mensch sich entfalten soll, entschlossen abgesteckt.

Was soll aber eine Existenzphilosophie mit dem Anspruch, den Menschen in seine angeborene Freiheit hinauszuführen, die im Lattenzaun einer Ideologie, die mittlerweile als mörderisch erkannt wurde, gefangen ist? Die Kirche hat Sartre zu Recht geächtet.

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