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Erlösung in der Nachspielzeit

Bei der EM 2024 fallen ungewöhnlich viele Tore „in letzter Sekunde“ – ein Kampf bis zum letzten Atemzug, den insbesondere Katholiken gut verstehen können.
Italien feiert den Ausgleichstreffer gegen Kroatien in letzter Sekunde
Foto: IMAGO/IPA/ABACA (www.imago-images.de) | Italien Mattia Zaccagni jubelt nach dem Ausgleichstor in der 90. + 8. Minute. Dadurch schied Kroatien aus dem Wettbewerb aus.

Jahrzehntelang galt Sepp Herbergers Fußball-Weisheit: „Der Ball ist rund, und das Spiel dauert neunzig Minuten“. Regierungen kamen und gingen, Mauern fielen, ganze Systeme wie das Sowjetreich zerbrachen, erst kam die D-Mark in die DDR, dann die Wiedervereinigung, und schließlich wurde die D-Mark vom Euro abgelöst. LGBTI- und andere Ideologien sowie alte und neue Konflikte entstanden – doch diese eine Wahrheit schien in Stein gemeißelt. Bis jetzt.

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Der Ball ist weiterhin rund, runder vielleicht als je zuvor. Die heutigen Fußballbälle, aus thermisch verklebten 3D-Panels gefertigt, bestehen aus einer Hightech-Schicht aus Polyethylen oder Polyurethan und sind weicher als die früheren schweren „Arbeitsgeräte“, die bei jedem Kopfball eine Gehirnerschütterung riskierten – es sei denn, man hieß Horst Hrubesch. Diese neuen Bälle verbessern zudem die Flugbahn erheblich. Aus der „Bananen-Flanke“ von Manfred „Manni“ Kaltz wurde der „Freistoß für die Ewigkeit“ von Roberto Carlos, der am 3. Juni 1997 beim Testspiel zwischen Frankreich und Brasilien aus 35 Metern mit einer unglaublichen Flugkurve den Ball zum 1:0 ins Netz beförderte, obwohl es zunächst so aussah, als würde der Ball eher in Richtung Eckfahne fliegen. 

Die Kroaten scheiden grausam aus

Dennoch gilt weiterhin eine unerschütterliche Herberger-Weisheit: „Das Runde muss ins Eckige.“ Der zweite Teil von Sepp Herbergers Diktum „das Spiel dauert neunzig Minuten“ muss jedoch insbesondere nach dieser EM abgeändert werden: „Das Spiel dauert mindestens neunzig Minuten“. Wenn sich die Vorrunde der EM 2024 – abgesehen von der ungewöhnlich hohen Zahl an Eigentoren – durch etwas auszeichnet, dann durch die vielen Tore, die in der sogenannten Nachspielzeit fallen.

Sepp Herberger
Foto: United Archives / kpa / Grimm via www.imago-images.de (www.imago-images.de) | Sepp Herberger prägte ewig gültige Fußballweisheiten. Auch bei dieser EM ist der Ball rund und das Spiel dauert 90 Minuten.

Dies ist nicht völlig neu – Bayern-Fans erinnern sich noch schmerzlich an die Niederlage im Champions-League-Endspiel am 26. Mai 1999, als Manchester United das Spiel durch zwei Tore in der Nachspielzeit drehte. Auch Real Madrid hat sich offenkundig darauf spezialisiert, das Ergebnis in der Zeit nach der 90. Minute zu wenden.

Bei der diesjährigen EM-Vorrunde wurden jedoch auffällig viele Spiele – neun von 36 – in der Nachspielzeit entschieden. So gelang es Deutschland durch ein Tor von Niclas Füllkrug in der 92. Minute, das Unentschieden und damit den Gruppensieg zu sichern. Ungewöhnlich ist auch die Länge der Nachspielzeit: Waren bis vor kurzem drei bis vier Minuten Nachspielzeit üblich, erzielte im Spiel Schottland gegen Ungarn Csoboth in der 90. + 10. Minute das einzige Tor. Besonders grausam war es für Kroatien: Nachdem Albanien in der 95. Minute den Ausgleich erzielt hatte, schoss im Spiel gegen Italien Mattia Zaccagni das Ausgleichstor in der 90. + 8. Minute. Dadurch schied Kroatien aus dem Wettbewerb aus.

Italiens Erlösung in letzter Sekunde

Für Italien war dieses Tor jedoch die Erlösung in letzter Sekunde: Die Anstrengung bis zum Schluss wurde belohnt. Dies verstehen insbesondere Katholiken gut: Abgesehen von den zahlreichen Bekehrungen auf dem Totenbett, die seit Konstantin immer wieder erwähnt werden, berichtet das Neue Testament von einer einzigen Heiligsprechung – und diese geschah sozusagen in der Nachspielzeit: Der „gute Schächer“, in der Tradition als Dysmas bekannt, hing schon am Kreuz, als er wohl mit letzter Kraft die Worte sprach: „Jesus, denk an mich, wenn du in dein Reich kommst.“ Diese Worte wogen ein ganzes Leben auf: „Amen, ich sage dir: Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein“, antwortete Jesus.

Die Fußball-Weisheit, dass es sich lohnt, nie aufzugeben und bis zum letzten Atemzug zu kämpfen, gilt auch als Lebensweisheit, wobei ein weiteres Diktum von Sepp Herberger nach wie vor Gültigkeit hat: „Maßgeblich ist auf dem Platz.“

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