Die Europameisterschaft macht Pause. Während der Ball ruht und die müden Spielerbeine sich ein wenig erholen, liegt es nahe, selbst kurz innezuhalten und – wie könnte man die Muße besser nutzen – ein wenig ins Philosophieren zu kommen.
Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. Obwohl dieser Satz die klischeebeladene Anmutung eines Kalendersprüchleins hat, kommt in ihm doch eine philosophische Wahrheit zum Ausdruck, die sich exemplarisch am Fußball nachvollziehen lässt. Denn der Fußball ist auch deswegen so spannend und unvorhersehbar, weil auch eine Mannschaft ohne echte Stars durch einen besonderen Teamgeist über sich hinauswachsen kann, wie jüngst der Sieg der Georgier gegen die Portugiesen bewiesen hat.
Exzellente Spieler
Umgekehrt kann es aber auch vorkommen, dass eine Ansammlung hochkarätiger Spieler es nicht schafft, mehr zu sein als die bloße Summe ihrer Teile, oder schlimmer noch: dass die Spieler im Verbund nicht einmal mehr ihre individuellen Qualitäten unter Beweis zu stellen vermögen. Womit wir bei den Engländern wären.
Das Team von Trainer Gareth Southgate müsste, wenn man allein nach den Namen der Spieler ginge, spielerisch alles übertrumpfen: Neben einer Reihe von Weltklassespielern der beiden besten englischen Klubs Manchester City und Arsenal London wissen die Engländern auch noch Real Madrids neuen Überspieler Jude Bellingham und Bayern Münchens Superstürmer Harry Kane in ihren Reihen. Zu sehen gab es von den „Three Lions“ bisher aber nur Rumpelfußball zum Vergessen. Fürs Weiterkommen als Gruppenerster hat es dennoch gereicht. So haben Southgate und Co. im Achtelfinale gegen die Slowakei die nächste Gelegenheit, ihr Löwengesicht zu zeigen.
Auf den richtigen Geist kommt es an
Was aber hatte Georgien gegen Portugal, was England in seinen Gruppenspielen bisher fehlte? Was ist dieses gewisse Etwas, das aus dem Ganzen mehr macht als die Summe seiner Teile? Die Antwort ist ebenso einfach wie kompliziert. Denn was dem Team von der Insel fehlt, ist, neben der richtigen Taktik, der Mannschaftsgeist. Was aber ist dieser „Geist“?
Nun, offenbar kann es sich bei ihm nicht nur um die Summe individueller Einstellungen handeln. Denn das Problem ist ja gerade, dass viele „Iche“ nicht zwangsläufig ein Wir aus machen. Beim Teamgeist scheint das Wir gegenüber dem Ich sogar vorrangig zu sein: Wer als neuer Spieler in eine Mannschaft mit intaktem Teamgeist kommt, wird von diesem Geist in der Regel wie von selbst ergriffen. Was auch immer genau hinter dem Phänomen des Mannschaftsgeists und dem besonderen Wir-Gefühl, das ihn ausmacht, steckt: Geplant herstellen oder gar erzwingen lässt er sich nicht.
Das gilt übrigens ebenso für den Heiligen Geist, auch wenn dieser natürlich von anderer, unendlich höherer Natur ist: Auch den Heiligen Geist kann man nicht einfach herbeizitieren. Allerdings kann man persönlich zu Ihm sprechen, Ihn um Beistand bitten und muss dann aber geduldig und bereitwillig sein Kommen erwarten. Ob Gareth Southgate und seine Jungs wohl schon einmal darüber nachgedacht haben, beim Heiligen Geist den richtigen „team spirit“ zu erflehen?
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