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Wir leben immer länger? Nicht in Deutschland

Seit Beginn der Corona-Pandemie befindet sich die Lebenserwartung im Sinkflug. Fast alarmierender ist allerdings, dass sie schon zuvor stagnierte.
Seniorin mit Zigarette
Foto: imago stock&people (imago stock&people) | Ein Teil erklärt sich möglicherweise durch einen ungesunden Lebensstil - jedenfalls sollen Herz-Kreislauf-Erkrankungen an der Stagnation der Lebenserwartung Mitschuld tragen.

Die Bundesregierung beansprucht für Deutschland eine „Führungsrolle“ im „Einsatz für globale Gesundheit“. Ziel ist es, „die gesundheitliche Situation der Menschen weltweit zu verbessern und medizinische Chancengleichheit zu fördern“. An ihrem Anspruch, „Ungleichheiten“ abzubauen, scheitert die deutsche Gesundheitspolitik allerdings schon im eigenen Land.

Das zeigt die Lebenserwartung, in der sich die Kluft zwischen Arm und Reich in Deutschland leider nicht verringert, sondern vergrößert. Das zeigen auch demografische Analysen sehr klar, obwohl es in Deutschland keine individuellen Daten zur Mortalität gibt, die mit sozioökonomischen Informationen verknüpft sind. Mithilfe regionaler Vergleichsanalysen lassen sich aber interessante Erkenntnisse zu den Ungleichheiten im Blick auf die Gesundheitslage hierzulande gewinnen.

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So betrug im Jahr 2019 das Gefälle in der Lebenserwartung zwischen den ärmsten und den reichsten Regionen 1,8 Jahre bei den Frauen und 3,1 Jahre bei den Männern. Im Zuge der Coronapandemie hat sich die Kluft auf 2,2 Jahre bei den Frauen und sogar 3,5 Jahre bei den Männern vergrößert. Die höchste Lebenserwartung ist in Süddeutschland zu verzeichnen, insbesondere in der Gegend von Freiburg, in München oder am Starnberger See. Die niedrigste Lebenserwartung haben die Menschen in strukturschwachen Regionen Westdeutschlands (Saarland, Bremen, Teile des Ruhrgebiets) und vor allem in vielen Kreisen Ostdeutschlands.

Die deutsche Teilung erklärt nicht alles

Das regionale Gefälle in der Lebenserwartung ist in Deutschland ausgeprägter als in anderen westeuropäischen Ländern. Das könnte man auf die Größe Deutschlands und die Folgen der deutschen Teilung zurückführen. So lässt sich aber nicht erklären, warum Deutschland insgesamt in der Lebenserwartung so deutlich zurückbleibt. Im Jahr 2000 lag Deutschland 0,7 Jahre unter dem Durchschnitt Westeuropas, mittlerweile liegt die Lebenserwartung sogar 1,7 Jahre unter dem Durchschnitt. Früher war die Lebenserwartung in Großbritannien niedriger als in Deutschland, heute liegt sie höher – was besonders angesichts der Defizite des berüchtigten britischen Gesundheitssystems „National Health Service“ überraschen muss. Früher wies auch Dänemark eine niedrigere Lebenserwartung als Deutschland auf, heute ist sie höher. Nirgendwo sonst in Westeuropa ist die Lebenserwartung so niedrig wie in Deutschland, das zum Schlusslicht geworden ist.

Zugleich gehören süddeutsche Landkreise wie Starnberg zu den Regionen mit der höchsten Lebenserwartung in Europa. Sie erreicht dort ein ähnliches Niveau wie in der Schweiz. Die Schweiz verzeichnete 2022 die höchste die Lebenserwartung in Europa (83,5 Jahre), etwa gleichauf mit Norwegen. Ähnlich hoch liegt die Lebenserwartung in Spanien (83,2 Jahre) und Schweden (83,1 Jahre). Auch Italiener und Franzosen erfreuen sich eines langen Lebens (82,8 bzw. 82,3 Jahre). Die hohe Lebenserwartung in den mediterranen Ländern wird oft auf die Lebensweise und Ernährung („mediterrane Diät“) zurückgeführt. Die höchste Lebenserwartung erreichen gleichwohl nicht die Südeuropäer, sondern die wohlhabenden Schweizer und Skandinavier.

Im Vergleich zum Süden wie zum Norden Europas schneidet Deutschland schlecht ab, nicht nur Ostdeutschland (80 Jahre), sondern auch Westdeutschland (80,7 Jahre). Zuwächse in der Lebenserwartung sind im letzten Jahrzehnten nahezu ausgeblieben. Der europaweit zu beobachtende Rückgang der Lebenserwartung infolge der Corona-Wellen 2020/2021 war in Deutschland zwar geringer als z.B. in Frankreich, wurde aber bisher aber nicht aufgeholt. Es gibt eine langjährige Stagnation und das ist, gemessen an früheren Erwartungen, eine herbe Enttäuschung.

Eigentlich sollte die Lebenserwartung steigen

Bis vor wenigen Jahren gingen Demografen davon aus, dass die Lebenserwartung pro Jahrzehnt um etwa drei Jahre zunimmt. So hatte man es über viele Jahrzehnte in entwickelten Ländern beobachtet. Erstmals enttäuscht wurde diese Erwartung durch den Rückgang der Lebenserwartung in den USA, der sich etwa seit 2013 zeigt. Die Opioidkrise, mit ihrer in die Hundertausende gehenden Zahl von Drogentoten, ist ein wichtiger Grund für diese Gesundheitskrise. Aber auch andere Faktoren (z. B. Herz-Kreislauferkrankungen oder Covid) drücken die Lebenserwartung der Amerikaner. Wie lange sie leben, hängt, viel stärker noch als in Europa, vom Wohnort, der sozialen Stellung und dem Einkommen ab. Eine Krankenversicherung muss man sich in den USA bekanntlich erst mal leisten können. Wie im Brennglas zeigt der Einbruch der Lebenserwartung die Spaltung und Krise der amerikanischen Gesellschaft.

Die Lebenserwartung sagt generell viel aus über Gesellschaften, mehr als Zahlen zum Bruttoinlandsprodukt. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) wird als Maßstab für den Wohlstand seit langem kritisiert und das zu Recht. Denn es misst ausschließlich monetär abgerechnete Leistungen. Die Erziehung von Kindern oder Pflege von Alten und Kranken zahlen nicht auf das BIP ein, wenn sie in der Familie geleistet werden. Wenn diese Fürsorgearbeit (care) von der Familie auf Institutionen verlagert wird, wächst das Bruttoinlandsprodukt. Nach derselben Logik erhöhen Umweltschäden das BIP, wenn sie wieder kommerziell beseitigt werden. So wird Wirtschaftswachstum erzeugt, obwohl der tatsächliche Lebensstandard bestenfalls stagniert.

Der beste Wohlstandsindikator

Ökonomische Kennziffern wie das BIP sind zudem anfällig für politische Manipulation, zu der vor allem autoritäre Regime neigen. Meldungen zum Wirtschaftswachstum in China sind mit Vorsicht zu interpretieren. Naivität in Bezug auf offizielle Zahlen aus kommunistischen Staaten hat im 20. Jahrhundert zu fatalen Fehleinschätzungen geführt. Die Wirtschaftskraft sozialistischer Planwirtschaften wurde massiv überschätzt, weil man sich auf die offiziellen Zahlenwerke verließ. So galt die DDR in den 1980er Jahren als zehntgrößte Volkswirtschaft der Welt.

Den maroden Zustand der DDR hätte man erkannt, wenn man sich an der Lebenserwartung orientiert hätte. Die war in der DDR anfangs sogar höher als in der Bundesrepublik, stagnierte dann aber seit den 1960er Jahren, während sie im Westen stetig wuchs. Zum Ende der DDR 1990 lag sie schließlich drei Jahre unter dem Niveau in Westdeutschland. Schon hierin zeigte sich das Scheitern des DDR-Systems auf drastische Weise.

Dieses Scheitern hätte man an den Daten zur Sterblichkeit voraussehen können, denn die waren durchaus korrekt. Manipulationen demografischer Daten fallen allzu leicht auf und sind daher riskant. Im historischen und internationalen Vergleich sind demografische Daten deshalb relativ zuverlässig – viel verlässlicher als Befragungen über Einkommensverhältnisse, die von der Bereitschaft der Interviewten abhängen, die jeweiligen Fragen (korrekt) zu beantworten. Schon aus diesen statistischen Gründen kann die Lebenserwartung als der zuverlässigste quantitative Indikator für Wohlstand, Entwicklung und Lebensstandard gelten, den es überhaupt gibt.

Die Stagnation ist ein Alarmsignal

Gemessen an der Lebenserwartung ging es mit dem Lebensstandard in Ostdeutschland nach der Wiedervereinigung folgerichtig zunächst rasch aufwärts. In den 1990er und 2000er Jahren stieg die Lebenserwartung und der Abstand zum Niveau Westdeutschlands verringerte sich deutlich. Dieser erfreuliche Aufholprozess bricht aber etwa 2013 ab; seitdem stagniert das Niveau. Bei den Männern sind in einzelnen Bundesländern (z.B. Thüringen) sogar Rückgänge zu verzeichnen.

In Westdeutschland stagniert die Lebenserwartung allerdings schon länger. Nirgendwo sonst in Europa war der Zuwachs in den letzten 30 Jahren so gering. Welche Gründe dieser unerfreuliche Trend hat, ist bisher ungeklärt. Untersuchungen von Demografen und Epidemiologen deuten auf Defizite bei der Bekämpfung von Herz- und Gefäß- und Krebserkrankungen als eine Ursache für die erhöhte Mortalität in ärmeren Regionen hin.

Unabhängig von der Frage, welche konkreten medizinischen Ursachen die Stagnation der Lebenserwartung hat, ist diese jedenfalls besorgniserregend. Der historische Vergleich lehrt, dass derartige Negativtrends in der Regel als Symptom einer systemischen Krise verstanden werden müssen, die tiefgreifende Ursachen hat – wirtschaftlicher, sozialer und wohl auch kultureller Natur. Dass die Politik in Deutschland dieses Krisensymptom bisher nicht einmal wahrzunehmen scheint, zeigt eine Ignoranz gegenüber der sozialen Realität, die möglicherweise selbst zu den Ursachen dieser Krise gehört.

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Stefan Fuchs

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