Das Klima kennt keine Gnade auf der Meseta, der spanischen Hochebene. Über 250 Kilometer zieht sich der Jakobsweg hindurch, passiert die Städte Burgos und León mit ihren gotischen Prachtkathedralen, ist ansonsten weitestgehend geprägt von Einsamkeit. Im Winter pfeifen eisige Winde von der Kantabrischen Kordillere hinunter. Im Sommer lastet Höllenglut über den zerfurchten Weiten. Bei Temperaturen von 40°C und mehr gerät der Pilgerpfad zur Durststrecke und verströmt eine besondere Stimmung für jene, die die Herausforderung und innere Einkehr suchen.
Hitzeflimmern bis zum Horizont auf Höhen um 900 Meter. Steine und Staub, Sträucher und Disteln. Im Frühling breiten sich rote Teppiche aus Klatschmohn aus. Dann sind die Getreidefelder noch üppig grün, bevor die Sonne die Landschaft verdorrt und in Töne braun in braun verwandelt. Seltenheitswert haben Baumbestände – und damit Schattenplätze. Umso stärker lernt man die kleinen Pilgeroasen unterwegs schätzen. So wie Hontanas, die exemplarischste und schönste von allen, zwei moderate Marschetappen hinter der Provinzhauptstadt Burgos.
Der Segen der heiligen Birgitta
Hontanas, abgeleitet vom altspanischen Wort für Quellen („fontanas“), versteckt sich in einer Senke. Wenn man fast glaubt, das in der Karte verbürgte Dorf sei wie vom Erdboden verschluckt, taucht es schlussendlich auf, wenige hundert Meter vorher. Der Weg leitet abwärts auf ziegelgedeckte Häuser zu, über denen der klobige Kirchturm aufsteigt. Ein Kurzabzweig am Ortsrand führt zunächst zu einem Brunnen, wo man bedenkenlos die Wasserflasche auffüllen kann, einem Rastplatz (tatsächlich unter Bäumen) und einer Minikapelle zu Ehren der Birgitta von Schweden (1303 bis 1373).
Das Innere, von einer Kuppel mit Bruchsteinüberzug gekrönt, dürfte kaum drei Quadratmeter groß sein. Es ist etwas düster, nur langsam gewöhnen sich die Augen ans spärliche Licht. In einer Ecke lädt ein Holzbänkchen ein, Platz zu nehmen und durch das Gitter die Skulptur der Heiligen in Ruhe zu betrachten. Birgitta trägt ein helles Kleid mit Blumenmotiven und hält ein geöffnetes Buch in Händen. Der Ausdruck der Figur wirkt ein wenig zu streng geraten, etwas abständig – vielleicht, weil sie nach der Vorstellung des Künstlers gerade eine ihrer Visionen erlebte?
Im Dienste Gottes, des Glaubens und der Nächstenliebe
Eine spanisch-englischsprachige Infotafel verbürgt, dass sich Birgitta im Jahre 1341 gemeinsam mit ihrem Gemahl Ulf Gudmarsson auf die Wallfahrt nach Santiago de Compostela begab. Nach der Rückkehr verwitwete sie, gründete den Erlöserorden und ein Kloster und stellte ihr Leben ganz in den Dienste Gottes, des Glaubens und der Nächstenliebe. „Gott geht dann in das Haus ein, wenn die Seele nicht nur in seiner Liebe meditiert, sondern Tag und Nacht auch darin arbeitet“, ist von ihr überliefert. Oder: „Was ist Gott anderes denn Leben und Lieblichkeit, leuchtendes Licht, unvergängliche Güte, richtende Gerechtigkeit und heilendes Erbarmen?“
Papst Johannes Paul II. erhob Birgitta von Schweden – zusammen mit Katharina von Siena und Edith Stein – zu einer der Schutzheiligen Europas. „Diese Kapelle ist im Gedenken an diese große Frau als Punkt der Begegnung von Pilgern auf dem Jakobsweg gegründet worden“, liest man am Ende der Infotafel. Oben in der Kuppel, die in Blau und mit Jakobsmuschelmotiven ausgemalt ist, besagt eine Inschrift: „Mögen dich die Freude und der Segen der heiligen Birgitta auf dem Weg begleiten.“
Blase aus Raum und Zeit
Die Kapelle kommt einfach und bescheiden daher, ebenso wie Hontanas selber. Laut letzter Dorfvolkszählung leben 72 Einwohner hier und trotzen der Landflucht. Ein Treffpunkt für Gott und die Welt ist der Kirchplatz, über den der Jakobsweg verläuft. Vor dem Gasthof „El Puntido“ lehnen Pilger ihre Rucksäcke und Teleskopstöcke an eine Hauswand, lassen sich auf der Freiluftterrasse zu Pause und Plausch nieder. Ein Milchkaffee kostet günstige 1,30 Euro. Hier fühlt man sich wie in einer Blase aus Raum und Zeit, ummantelt von Friedenskulissen aus Stein.
Das Plätschern des nahen „Sternenbrunnens“ (span.: Fuente de la Estrella) verstärkt die Atmosphäre und Idylle. Das dörfliche Ensemble von Hontanas steht offiziell unter Denkmalschutz.
Getragene Melodien vom Band, die aus dem Innern dringen, steigern die Neugier auf die Kirche der Unbefleckten Empfängnis (span.: Inmaculada Concepción). Die Ursprünge des Gotteshauses reichen ins 16. Jahrhundert zurück. Das Innere animiert zu einem spirituellen Halt, aus dem man wunderbar gestärkt hervorgeht.
Im hinteren Teil ist ein abgetrennter Sitzbereich eingerichtet. Bibeln in mehreren Sprachen, auch auf Deutsch, liegen aus. In einer sandgefüllten Schale flackern bunte Kerzen. Auf dem Tisch an der Wand stehen Engelsfigürchen aus Porzellan. Darüber setzen sich Fotos renommierter Persönlichkeiten, darunter Mutter Teresa und Martin Luther King, zu einer Collage zusammen.
Auf einem Tisch näher zum Eingang hin symbolisieren winzige Fahnen die Vielfalt der Nationalitäten auf dem Jakobsweg, liegt ein Stempel zum Selberstempeln des Pilgerausweises aus. Im Gästebuch darf man sich Wünsche, Bitten und Dank von Herz und Seele schreiben und an ein vertikal gespanntes Netz Zettel mit Gebetsanliegen klemmen, mit Erinnerungsbändchen oder Fotos von Verstorbenen, die man im Herzen auf dem Jakobsweg voranträgt.
Sofa, Standuhr, Pflanzenpracht
Den Altarraum könnte man bei oberflächlicher Betrachtung für gewöhnlich halten. Im Zentrum des golden glänzenden Barockretabels nimmt – wie könnte es anders sein in einer Marienkirche – die Figur der Gottesmutter den Ehrenplatz ein. Kurios jedoch ist die rechte Seite des Altarraums, wo ein Ledersofa und eine Standuhr stehen. Einem Antiquariat stünden beide Stücke wahrlich besser zu Gesicht als einer Kirche. Passender hinwiederum ist in einem Seitenretabel ein ausdrucksstarkes Skulpturendoppel der heiligen Herzen Mariens und Christus‘. Ausgewiesen ist der Aufgang zum Turm, doch die moderne Treppe endet auf halber Strecke; die Wände werden für Wechselausstellungen genutzt.
Zurück an der frischen Luft, führt ein Durchgang neben der Kirche in den historischen Bischofsgarten; der Würdenträger von Burgos besaß hier einst ein Palais mit Grünareal. Heute breitet sich eine Wiese mit Kinderspielgerät und einem Ruhebänkchen aus. Im Durchgang hat irgendwer ein Paar ausrangierte Pilgerstiefel an eine Leiter gehängt.
Stilvoller sind die Dorfgassen, die die Bewohner mit Pflanzen und voller Liebe zum Detail dekoriert haben. Überall prangt Blumenschmuck. Ein bäuerliches Figürchen mit Strohhut präsentiert in einer winzigen Schubkarre eine Kakteenkollektion. Wer mag, bleibt über Nacht in Hontanas und vertieft sich in die ländliche Abgeschiedenheit der Meseta. Zur Wahl stehen mehrere Quartiere. Doch früher oder später naht der Aufbruch. Dann setzt man den Jakobsweg, ein Sinnbild für den Weg des eigenen Lebens, mit Höhen und Tiefen jedweder Art weiter fort – bis man irgendwann in Santiago de Compostela und vielleicht auch bei sich selber ankommt.
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