Immerhin, das soll gleich zu Beginn gesagt werden, am Ende gab es eine Entschuldigung. Wenngleich auch nicht unter dieser Überschrift, so veröffentlichte doch „Stern“-Journalistin Kerstin Herrnkind am vergangenen Dienstag eine Klarstellung zu ihrem Kommentar, der am Tag zuvor zu dem Mannheimer Polizistenmord an Rouven L. von ihr auf der Online-Plattform der Illustrierten erschienen war.
Herrnkind hatte in ihrem Kommentar festgestellt: „Dass Polizisten im Dienst ums Leben kommen, ist bedauerlich. Jeder tote Polizist ist einer zu viel. Aber es passiert zum Glück selten. Bauarbeiter leben gefährlicher.“ Und sie untermauerte ihre These auch mit statistischen Daten: Weit über 90 Prozent der Polizeieinsätze in Deutschland verliefen ohne körperliche und verbale Gewalt, So stehe es in Lehrbriefen der Polizei. Herrnkinds Schlussfolgerung: Taxifahrer, Rettungskräfte, Pflegekräfte in der Psychiatrie, Lehrer, Prostituierte und Sozialarbeiter würden häufiger im Job angegriffen. Ihr Fazit: „Der Polizeiberuf gehört auch nicht zu den gefährlichsten Berufen. In Deutschland stirbt statistisch gesehen fast jeden fünften Tag ein Bauarbeiter.“
Die Aussagen wirkten auf viele Leser pietätlos
Diese Aussagen wirkten auf viele Leser pietätlos und wie eine Relativierung der Tat. Offenbar war die Kritik, die nun auf den „Stern“, vor allem online in den sozialen Netzwerken, einprasselte, so massiv, dass sich die Redaktion schließlich in der Pflicht sah, zu reagieren.
Und so folgte dann am Dienstag die Klarstellung der Journalistin: „In Mannheim ist ein Polizist erstochen worden, als er versuchte, andere Menschen zu schützen. Er ist ein Held. In einem Kommentar, den ich gestern für den ,Stern' geschrieben habe, ist offenbar der Eindruck entstanden, ich würde diesen Tod relativieren wollen. Nichts liegt mir ferner. Mein Mann war fast 40 Jahre Polizist“, leitet Herrnkind ihren zweiten Text ein und beschreibt dann, wie sie selbst sich um ihren Mann Sorgen gemacht habe, wenn dieser im Dienst gewesen sei.
Gleich zweimal stellt sie fest, dass natürlich jeder Mord an einem Polizisten einer zu viel sei. Gleichzeitig hält sie aber an ihrer statistischen Aussage aus dem ersten Artikel fest: 75 Menschen seien 2023 auf dem Bau gestorben. Und verdeutlicht vor diesem Hintergrund auch noch einmal die Absicht ihres ersten Artikels: „Ein Unfall ist etwas anderes als ein Mord, das stimmt. Aber in beiden Fällen sterben Menschen bei der Ausübung ihres Berufes. Nach dem Tod eines Polizisten meldet sich die Politik regelmäßig zu Wort. Häufig mit vorschnellen Urteilen, um bei der Wählerschaft zu punkten.“ Wenn allerdings Bauarbeiter stürben, dann stelle niemand Kerzen auf: „Kein Politiker ergreift das Wort, die Menschen halten keine Mahnwache, obwohl es Zeit dafür wäre.“ Auf diesen Skandal habe sie aufmerksam machen wollen.
Meinungsfreiheit ist wichtiger als Taktgefühl
Der Fall scheint symptomatisch für den Zustand unserer Medienlandschaft: Sobald etwas geschehen ist, muss möglichst schnell ein Urteil her. Natürlich darf ein Journalist pietätlos sein (die Autorin wollte es wohl nicht, wirkte aber so). Dann muss er aber auch mit entsprechenden Reaktionen aus der Leserschaft rechnen. Die statistischen Berechnungen können ja noch so sehr stimmen, aber Taktgefühl hätte zu der Erkenntnis führen können, sie vielleicht lieber zwei Wochen später zu veröffentlichen. Allerdings ist auch klar: Meinungsfreiheit ist wichtiger als Taktgefühl. Die Tendenz schnell abzuurteilen, ist aber auch bei den „Stern“-Kritikern festzustellen. Gleich wittern sie eine Kampagne. Gegen solche Schnellschüsse hilft nur, in der Fähigkeit, Ruhe zu bewahren, eine journalistische Tugend zu erkennen.
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