Einen Tag vor dem Beginn der EU-Ratspräsidentschaft Ungarns weilte Ministerpräsident Viktor Orbán in Wien. Allerdings nicht, um diplomatische Spitzengespräche für seine sechsmonatige Amtszeit als Ratsvorsitzender zu führen, sondern in parteipolitischen Angelegenheiten: Ungarns Regierungschef gründete eine Allianz, aus der die stärkste Fraktion rechter Parteien im Europäischen Parlament erwachsen soll. Mit an Bord sind derzeit nur zwei Parteien, die FPÖ des früheren österreichischen Innenministers Herbert Kickl und die ANO des früheren tschechischen Regierungschefs Andrej Babiš.
Die am Sonntag gegründete Allianz „Patrioten für Europa“ braucht nun noch Europaabgeordnete aus vier weiteren EU-Staaten, um eine Fraktion im Europäischen Parlament gründen zu können. Auf den ersten Blick ist darum erstaunlich, weshalb die zur gleichen Zeit in Essen tagende AfD nicht mit an Bord geholt, sondern von der Neugründung am Sonntag völlig überrascht wurde. FPÖ und AfD saßen in Brüssel und Straßburg lange Seite an Seite in der nationalistischen ID-Fraktion, bis die AfD wegen der Krah-Affären ausgeschlossen wurde – wohlgemerkt gegen die Stimmen der FPÖ-Europaabgeordneten.
RN wäre für die Allianz wichtiger als AfD
Dennoch wollte das Trio Orbán-Babiš-Kickl die AfD zunächst auf Distanz halten, wohl um den französischen „Rassemblement National“ (RN) von Marine Le Pen nicht zu verärgern. Der aufstrebende RN wäre für die neue Allianz in jeder Hinsicht weit wichtiger als die deutsche AfD. Doch zwischen Le Pens RN und Krahs Truppe ist das Tischtuch zerrissen.
Dass Kickls FPÖ und Babišs ANO, welche bisher der liberalen „Renew“-Fraktion in der EU angehörte, nach einer neuen Heimat suchten, überraschte wenig. Bei Orbáns Fidesz sind die Dinge komplizierter: Die bisher zwölf, nun noch immer elf Europaabgeordnete stellende ungarische Regierungspartei brach vor Jahren mit der christdemokratischen EVP und wurde fraktions- und damit recht bedeutungslos. Zunächst versuchte Orbán dank seiner guten Kontakte zur italienischen Regierungschefin Giorgia Meloni, die Fidesz in die konservative EKR-Fraktion zu lotsen. Das aber scheiterte daran, dass die zweitstärkste Gruppe in dieser Fraktion, die polnische PiS, mit Orbáns betonter Russland-Freundlichkeit und Ukraine-Skepsis unglücklich ist.
Wären die elf Fidesz-Mandatare nun aber fraktionslos geblieben, während die sieben ungarischen Europaabgeordneten der neuen TISZA-Bewegung von Orbán-Kritiker Péter Magyar in die EVP-Fraktion aufgenommen wurden, dann wäre das für den machtbewussten Regierungschef Ungarns eine doppelte Blamage.
Größer und lauter als EKR und ID
Also bemüht sich Orbán nun, auf der rechten Seite des Europaparlaments eine neue Fraktion zu bilden, die – wenn möglich – größer und lauter sein sollte als die bisherigen beiden, nämlich EKR und ID. Darum bezeichnete FPÖ-Chef Kickl die neue Allianz am Sonntag als „Trägerrakete“, denn der ungarisch-tschechisch-österreichische Dreibund alleine wäre ein Schlag ins Wasser. Die patriotischen Alliierten haben jedenfalls nur noch wenige Tage, um ihre Fühler in unterschiedliche Richtungen – vor allem nach Paris – auszustrecken. Am 16. Juli konstituiert sich das neue Europäische Parlament in Straßburg, bis dahin muss die Fraktionsbildung abgeschlossen sein.
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