Eine Meldung in einer Essener Lokalzeitung: Die große Kundgebung zum 1. Mai beginne in diesem Jahr erst um 12 Uhr statt schon um zehn. Die Teilnehmer sollten doch die Möglichkeit haben, mit der Familie am Feiertag gemeinsam zu frühstücken und mancher wolle vielleicht auch ausschlafen. Um das einordnen zu können, muss man wissen, hier im Ruhrgebiet, dem industriellen Herzen der Republik, war der 1. Mai nicht bloß irgendein arbeitsfreier Tag. Für die Arbeiterbewegung, die hier über Jahrzehnte, vor allem in Form der Gewerkschaften und der SPD, das politische Leben bestimmte, war der Tag der Arbeit eine Art säkulares Hochfest. Hier gab es zwar keine Sonntagspflicht, aber eine Solidaritätspflicht. Teilnahme an der Kundgebung war Ehrensache, Mitgliedschaft in der entsprechenden DGB-Gewerkschaft sowieso. Verstöße gegen diese ungeschriebenen Gebote hätten soziale Ächtung nach sich gezogen.
Heute ist nichts mehr davon zu spüren. Jetzt könnte man aus katholischer Sicht über diese Entwicklung lächeln. Nach dem Motto: Seht her, nicht nur unser soziales Milieu erodiert, anderen weltanschaulichen Gruppen geht es genauso. Und sicher, gerade um die ersatzreligiösen Züge, die die 1. Mai-Kundgebungen auch geprägt haben, ist es nicht schade.
Trotzdem eine Krokodilsträne: Die organisierte Arbeiterbewegung war auch ein Ordnungsfaktor in der Gesellschaft. Menschen fanden hier Heimat und ja auch die viel beschworene Solidarität, sie wurde tatsächlich gelebt. Die Zeiten sind heute anders. Die weltanschaulich geordnete Gesellschaft wird so nicht mehr wieder kommen. Auch die Tatsache, dass einige Gewerkschaften, etwa Verdi, in jüngster Zeit Mitgliederzuwächse verzeichnen konnten, ändert daran nichts. Die neuen Mitglieder sehen in der Gewerkschaft eher einen Serviceclub, der ihnen dabei hilft, ihre Interessen durchsetzen, keine lebenslange Gesinnungsgemeinschaft. Und da ist dann auch der 1. Mai kein selbstverständlicher Pflichttermin mehr im Kalender. Wenn man so will: Auch die Arbeiterbewegung erlebt ihren säkularen Synodalen Weg.
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