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Äthiopien droht der Staatszerfall

Ministerpräsident Abiy Ahmed habe der Äthiopisch-Orthodoxen Kirche den Krieg erklärt und zerstöre bewusst die Einheit des Landes, sagt der kaiserliche Prinz Asfa-Wossen Asserate.
Asfa-Wossen Asserate ist Großneffe des letzten äthiopischen Kaisers Haile Selassie
Foto: Volker Danzer (imago stock&people) | Asfa-Wossen Asserate ist Großneffe des letzten äthiopischen Kaisers Haile Selassie und ein kaiserlicher Prinz von Äthiopien. 1948 in Addis Abeba geboren, überlebte er die Revolution von 1974 als Student in Deutschland.

Hoheit, als der Ministerpräsident Äthiopiens, Abiy Ahmed Ali, im Jahr 2019 den Friedensnobelpreis erhielt, da waren Sie eher hoffnungsfroh und zuversichtlich. Haben Sie sich in ihm geirrt?

Ich habe mich damals nicht nur gefreut, sondern war überzeugt, dass die dunkle Zeit, die wir seit 1974 erleben mussten, zu Ende sei. Wir haben ihn wie einen Propheten begrüßt. Das äthiopische Volk, das seit mehr als 30 Jahren durch Kriege und ethnische Zwietracht in eine grauenhafte Situation geraten war, fühlte sich gerettet, weil dieser Mensch wieder von Gott sprach. Als er nach Frankfurt kam, sind aus allen Teilen Europas 20.000 Menschen angereist, um ihm zuzujubeln. Er wollte uns eine neue Verfassung geben und eine neue Wirtschaftspolitik einführen. Und er sprach vor allem über Versöhnung!

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Doch genau das Gegenteil geschah.

Richtig! Wir glaubten, er würde für die territoriale Integrität und die nationale Einheit Äthiopiens stehen. Dann kam ein großer Krieg mit schrecklichen Massakern. Der Ministerpräsident hat die zwei großen, staatstragenden Ethnien des Landes, die Tigray und die Amharen, aufeinandergehetzt und sich zerstören lassen. Auf beiden Seiten starben jeweils eine halbe Million Menschen, bis es im November 2023 zu einem Ende des Bruderkrieges kam. Die Kriegsfolgen sind katastrophal. Aber bei den Friedensverhandlungen wurden die Amharen, die wesentlich dazu beigetragen hatten, dass die Regierung den Krieg gegen die Rebellion aus Tigray gewonnen hat, ausgeschlossen und seither verfolgt.

"Der Ministerpräsident hat die zwei großen,
staatstragenden Ethnien des Landes,
die Tigray und die Amharen,
aufeinandergehetzt und sich zerstören lassen"

Verfolgt der Regierungschef eine ethnische Agenda?

Ja, jetzt ist es völlig klar: Er hat uns alle nur getäuscht! Äthiopien ist seit drei Jahrzehnten der einzige Staat auf der Welt, der sich als „ethnische Föderation“ bezeichnet. Die gesamte Politik ist ethnisiert. Fast alle politischen Parteien sind ethnische Parteien. Dabei gibt es – Ägypten vielleicht ausgenommen – kein Land in Afrika, das mit demselben Recht wie Äthiopien in Anspruch nehmen könnte, seit Jahrhunderten eine Nation zu sein. Ausgerechnet Äthiopien, das so viel für die Dekolonisation und für die Einheit Afrikas getan hat, hat seit 1995 die Ethnizität zur Grundlage der Politik gemacht. Das tat vorher nur ein einziges Land, nämlich Südafrika während der Apartheid. Das hat dazu geführt, dass Äthiopiens Staatsräson „Einheit in Verschiedenheit – und Verschiedenheit in Einheit!“ heute keine Bedeutung mehr hat. Stattdessen geht es nur mehr um die hegemoniale Stellung der jeweiligen Ethnie.

Gibt es nach all den Jahrhunderten äthiopischer Staatlichkeit heute bei den Völkern des Landes kein Bewusstsein mehr für Zusammengehörigkeit?

Wir haben heute in Äthiopien eine Bevölkerung von 120 Millionen Menschen; davon sind 85 Prozent jünger als 25 Jahre. Sie haben nichts anderes erlebt als diese ethnische Politik. Ihnen wurde immer eingeredet, Opfer der anderen zu sein. Die Amharen, die jetzt angefeindet und beschuldigt werden, andere unterdrückt zu haben, waren eines der staatstragenden Völker und haben stets das Gemeinsame in den Vordergrund gestellt. Die FANO, die häufig als amharische Miliz bezeichnet wird, ist ein regelrechter Volksaufstand mit zwei Millionen Menschen unter Waffen, die vor allem das Schlachten an Amharen stoppen und die Souveränität des Landes wiederherstellen möchte. Obwohl der Staat eine Luftwaffe sowie Panzer hat, gelingt es der Zentralregierung wegen des FANO-Widerstandes nicht, die amharische Region zu kontrollieren.

Strebt Ministerpräsident Abiy Ahmed nach einer Dominanz der Oromo im Staat oder nimmt er den Staatszerfall Äthiopiens in Kauf?

Er will letztendlich den Tod Äthiopiens und eine neue oromische Republik. Über den Staatszerfall soll ein neuer Staat „Oromia“ entstehen. Die Oromisierung hat längst begonnen. Es wird so dargestellt, als seien die Oromo immer die Unterdrückten gewesen. Man kann Kaiser Haile Selassie viel vorwerfen, aber dass er Unterschiede zwischen den Ethnien gemacht hätte, ist eine Lüge. Dem Kaiser ging es nicht um die ethnische Zugehörigkeit, sondern nur um Treue. Abiys Politik wendet sich gegen die Amharen und gegen die Kirche. So wurden allein in den letzten sieben Monaten 12.000 Jugendliche nur deshalb verhaftet, weil sie Amharen sind.

"Er will letztendlich den Tod Äthiopiens
und eine neue oromische Republik"

Welche Rolle spielt hier die Mehrheitskirche, also die Äthiopisch-Orthodoxe Tewahedo-Kirche, die stets ein Faktor der Einheit war?

Diese Kirche ist sehr bedroht, denn der Kampf zwischen Staat und Kirche hat längst begonnen. Abiy ist auch in religiöser Hinsicht ein Chamäleon: Kein Mensch weiß, was er wirklich glaubt. Wenn er zu seinen Freunden nach Abu Dhabi geht, präsentiert er sich als Muslim. Aber wenn er zu den Amerikanern geht, sagt er, er sei evangelikal. Der Äthiopisch-Orthodoxen Kirche hat er den Krieg erklärt, weil er weiß, dass die Krone und die Kirche die beiden Säulen der Einheit des Landes waren. Nach dem Fall der Krone ist die Kirche als einzige nicht-ethnische Institution der Einheit Äthiopiens geblieben. Also versucht Abiy, die Kirche zu beeinflussen, um den Patriarchen zu stürzen und einen Oromo zum Patriarchen ernennen zu lassen.

Bereits jetzt zeichnet sich eine Kirchenverfolgung ab: Kirchen werden verwüstet, Mönche gefoltert und ermordet.

Das ist ein Werk der Regierung! Man verweigerte sogar Erzbischöfen, die in Amerika tätig sind, die Einreise und damit die Teilnahme an der Synode. Man muss auch fragen, warum die Amerikaner, die Abiy an die Macht gebracht haben, all das zulassen. Es findet sogar eine Ethnisierung innerhalb der Kirche statt, weil sich manche von der Regierung kaufen lassen. An Bedeutung gewinnen die Evangelikalen, weil die Oromo zu einem guten Teil evangelikal sind. Der Name Oromia wurde im 19. Jahrhundert von protestantischen deutschen Missionaren geprägt. Als ich 1968 Äthiopien zum Studium verließ, war in einem Zeitungsartikel zu lesen: „Wie man weiß, gibt es in ganz Äthiopien 17 800 evangelikale Christen.“ Heute sind es 12,5 Millionen! Nicht einmal ein Prozent von ihnen waren zuvor Heiden oder Muslime, sondern sie sind aus der Äthiopisch-Orthodoxen Kirche abgeworben worden. Mit sehr viel Geld bauen sich die Evangelikalen riesige Paläste.

Äthiopiens Premierminister Abiy Ahmed
Foto: RUNE HELLESTAD via www.imago-images.de (www.imago-images.de) | Abiy Ahmed Ali ist seit 2018 Regierungschef Äthiopiens. 2019 erhielt er für seine Aussöhnungspolitik mit dem Nachbarland Eritrea den Friedensnobelpreis.

Erwarten Sie, dass die Kämpfe neuerlich eskalieren?

Ja, denn nicht nur die Amharen sind unglücklich. Es gibt sogar Oromo-Gruppen die gegen den Regierungschef sind. Der Mann, der den Nobelpreis dafür bekam, dass er Frieden mit Eritrea geschlossen hat, hat nun vor ein paar Tagen klargestellt, dass er eine oppositionelle Gruppe in Eritrea unterstützt, um das Regime in Asmara zu stürzen. Allein, um an der Macht zu bleiben, müsste er doch Gespräche führen, aber er denkt gar nicht daran. Darum eskaliert es weiter. Unsere europäischen Freunde sehen nur ein armes Land, das seit 50 Jahren nicht auf die Beine kommt. Nicht nur in den Kriegsgebieten ist die wirtschaftliche Lage katastrophal. Ein Großteil der Bevölkerung in Tigray ist auf Lebensmittel-Lieferungen von außen angewiesen. Wegen der anhaltenden Kriege haben die Bauern nicht gesät und nicht geerntet. Die Inflationsrate liegt faktisch bei über 65 Prozent.

Wie reagieren die afrikanischen Nachbarn auf diese Entwicklung?

Sehr nervös, weil sie wissen, dass sich morgen bei ihnen wiederholen kann, was heute in Äthiopien geschieht. Es gibt ja keinen einzigen afrikanischen Staat, der ethnisch homogen ist. Aus diesem Grund wurden die alten Kolonialgrenzen, die in London oder Paris mit dem Lineal gezogen worden waren, nach der Dekolonisation nie angerührt, weil die afrikanischen Führer ganz genau wussten, dass der Tribalismus die allergrößte Gefahr für die Einheit der neuen afrikanischen Staaten sein würde. Wenn Äthiopien auseinanderfällt, wird es innerhalb eines Jahres dutzende afrikanische Länder geben, in denen Bürgerkriege toben. Leider steckt bislang hinter jedem sezessionistischen Krieg in Afrika ein westliches Land.

"Wenn Äthiopien auseinanderfällt,
wird es innerhalb eines Jahres dutzende
afrikanische Länder geben, in denen Bürgerkriege toben"

Wer ist das im Fall Äthiopiens heute?

Die Kissinger-Doktrin aus dem Jahre 1968 war ganz klar: Die Äthiopier sind unkontrollierbar, darum muss zuerst die Krone fallen, dann die Orthodoxe Kirche, und dann muss man die Ethnien spalten. Daran hat sich in all den Jahren nichts geändert! Die Amerikaner sollten jetzt diese Doktrin aufgeben und sich endlich für den Aufbau eines gerechten und demokratischen Äthiopiens einsetzen.

Rund 30 Prozent der Einwohner Äthiopiens sind Muslime. Wie reagieren sie auf die aktuellen Veränderungen?

Wenn zu den ethnischen Auseinandersetzungen noch ein religiöser Konflikt dazu gekommen wäre, gäbe es schon längst kein Äthiopien mehr. Unsere äthiopischen Muslime sind zu 90 Prozent die größten Patrioten, die wir haben. Aber natürlich versucht Abiy die ethnischen Fragen auch in die islamische Glaubensgemeinschaft hineinzutragen, so wie er es auch bei der Kirche tut. Vor zwei Jahren hat er einen sehr beliebten Präsidenten des „Majlis“ aus der Region Amhara abgesetzt und einen Oromo an die Spitze gesetzt. Heute lehnen die meisten Muslime den Führer ab, weil man ihm vorwirft ein Wahhabit zu sein.

Worauf setzen Sie als Erbe der kaiserlichen Dynastie und der äthiopischen Tradition Ihre Hoffnung?

Ich habe mein Leben lang keiner politischen Partei angehört. Dieses Privileg kann ich mir jetzt jedoch nicht mehr leisten. Seit mehr als sieben Monaten habe ich mich der amharischen Bewegung verschrieben und bin ihr diplomatischer Beauftragter für Europa. Leider musste ich feststellen, dass sich die aktuelle Regierung einer Politik der ethnischen Säuberung der Amharen zu eigen gemacht und tatenlos zugesehen hat wie Zehntausende Amharen umgebracht und aus Regionen vertrieben wurden, in denen sie zum Teil seit vier Generationen gelebt haben. Ich kann da nicht unbeteiligt und neutral zusehen. Darum bin ich jetzt wohl zum zweiten Mal in meinem Leben in Äthiopien eine unerwünschte Person!

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