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Jonathan Haidt: Generation Smartphone, Generation Angst

Die mentale Gesundheit der nach 1995 geborenen Kinder hat sich weltweit dramatisch verschlechtert, konstatiert der Psychologe Jonathan Haidt. Der Grund: zu viele virtuelle Welten, zu wenig Wirklichkeit.
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Foto: Monkey Business 2 (www.imago-images.de) | Laut Psychologe Jonathan Haidt ist die ständige Vernetzung über Smartphones auch Ursache für die gestiegene Einsamkeit junger Menschen.

Überbehütung in der wirklichen Welt und Unterbehütung in der virtuellen Welt sieht der US-amerikanische Sozialpsychologe Jonathan Haidt von der New Yorker Stern School of Business als Ursachen dafür, dass sich die mentale Gesundheit der nach 1995 geborenen Kinder weltweit dramatisch verschlechtert hat. Ein Gegensteuern sei aber möglich, wenn neben Verantwortungsträgern in Politik und Gesellschaft Eltern, Schulen und Tech-Unternehmen an einem Strang ziehen.

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In den Vereinigten Staaten stoßen Haidts Thesen auf großes Interesse: Seit zehn Wochen steht „Generation Angst“ ununterbrochen auf der Bestsellerliste der New York Times. Der „Guardian“ prognostiziert gar, das Buch „könnte zum Gründungsdokument für eine wachsende Bewegung werden, die dafür kämpft, Smartphones aus Schulen zu verbannen und junge Kinder von Social Media fernzuhalten“. Seit wenigen Tagen ist „Generation Angst“ auch auf Deutsch erhältlich.

Mega-Trends Smartphone, Social Media und Selfie-Kultur

Die Neuerscheinung bietet wertvolle Einblicke, welche Auswirkungen Medien auf die Gesellschaft haben. Eine Fülle von Forschungsergebnissen und aktuellen Studien – der Fußnotenapparat umfasst fast ein Viertel des Buchs – erwartet die Leser.

Über Haidts Lösungswege mag man unterschiedlicher Ansicht sein. Das unbestreitbare Verdienst des Autors liegt indes in der plausiblen datenbasierten Darstellung der weltweiten Mega-Trends Smartphone, Social Media und Selfie-Kultur samt ihren gravierenden Auswirkungen.

Zu viel in virtuellen Welten

Die Generation, die nach 1995 geboren wurde, wird allgemein als Generation Z bezeichnet. Sie folgt auf die sogenannten Millenials (geboren von 1981 bis 1995). Was die Generationen voneinander unterscheidet, geht laut der Sozialpsychologin Jean Twenge über die im Kindesalter erlebten Ereignisse wie Kriege oder wirtschaftliche Krisen hinaus. Es schließt auch Veränderungen in der Technologie ein, die in dieser Lebensphase benutzt wird. Zu solchen Technologien zählen beispielsweise Radio und Fernsehen, aber auch PC, Internet oder Smartphone.

Als die ältesten Vertreter der Generation Z um 2009 in die Pubertät kamen, liefen gleich mehrere Tech-Trends zusammen: die rasche Verbreitung von schnellem Breitbandnetz in den 2000er Jahren, die Einführung des iPhone 2007 und das neue Zeitalter der sozialen Medien. Like- und Share-Buttons, Smartphones mit Frontkameras und die Selfie-Kultur haben dazu geführt, dass eine ganze Generation von Kindern und Jugendlichen mehrere Stunden am Tag darauf verwendete, durch die Beiträge von Influencern und mehr oder weniger fremden Nutzern zu scrollen, statt sich mit Menschen in ihrem unmittelbaren Umfeld auseinanderzusetzen, mit ihnen zu spielen, zu sprechen oder auch nur Blickkontakt aufzunehmen.

Versuchskaninchen für eine radikal neue Form des Heranwachsens

Weil die Generation Z ihre Pubertät als erste Generation in der Geschichte mit einem jederzeit verfügbaren Portal in der Tasche erlebte, bezeichnet sie Haidt als „Versuchskaninchen für eine radikal neue Form des Heranwachsens“. Diese sei weit entfernt von den Interaktionen kleiner Gruppen in der wirklichen Welt, in der sich Menschen im Lauf ihrer Evolution entwickelten.

Die fundamentalen Veränderungen skizziert er mit dem Begriff „Große Neuverdrahtung“ der Kindheit. Als Folgen dieses Experiments beschreibt Haidt auf der Grundlage umfangreichen Datenmaterials eine dramatische Verschlechterung der psychischen Gesundheit und des Wohlergehens von jungen Menschen im 21. Jahrhundert.

Seit Anfang der 2010er Jahre nahmen Depressionen bei amerikanischen Teenagern in sämtlichen Bevölkerungsgruppen und sozialen Klassen um das Zweieinhalbfache zu. Bei amerikanischen Studenten stieg die Anzahl der Diagnosen im Hinblick auf Angststörungen und Depressionen an.

Anstieg von Depressionen und Angststörungen

Angst und Depressionen zählen in der Psychiatrie zu den sogenannten internalisierenden Störungen. Betroffene verspüren innerlich einen starken negativen Stress (Distress), Emotionen wie Angst, Furcht, Trauer oder Hoffnungslosigkeit und ziehen sich mehr und mehr zurück.

Mädchen und Frauen leiden häufiger an internalisierenden Störungen, Jungen und Männer an externalisierenden Störungen. Bei Letzteren wird die Reaktion auf Distress über Verhaltensstörungen, Schwierigkeiten bei der Kontrolle von Wut oder extremes Risikoverhalten nach außen getragen.

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Seit Anfang der 2010er Jahre sind aber beide Geschlechter mehr von internalisierenden Störungen betroffen. Zusätzlich stiegen die Notaufnahmen wegen Selbstverletzung und die Suizidraten bei Jugendlichen im Alter von zehn bis 14 Jahren in den Vereinigten Staaten an.

Dieselben Muster fand Haidts Forschungspartner Zach Rausch für englischsprachige und nordische Länder. Zudem belegt die globale PISA-Studie für alle Weltregionen außer Asien eine vermehrte Zunahme von gefühlter Einsamkeit an Schulen zwischen 2012 und 2015.

Visuell orientierte Plattformen verändern Selbstbild

Als Ursache macht Haidt unter anderem die ständige Vernetzung der Generation Z und bestimmte Aspekte sozialer Medien aus. Visuell orientierte Plattformen wie Instagram oder TikTok verändern vor allem bei Mädchen durch soziales Vergleichen ihr Selbstbild und ihre Erwartungen an das Leben. Die stundenlange digitale Verbindung mit anderen führt zwar dazu, dass heutige Teenager insgesamt mehr sozial interagieren, dies geschehe aber in einer geringen Qualität. Dadurch wird es schwieriger, im wirklichen Leben Zeit mit wenigen, aber guten Freunden zu verbringen, und „Jungen wie Mädchen wurden im Zuge der großen Neuverdrahtung einsamer“.

Die raschen technologischen Neuerungen veränderten nach Haidts Beobachtung das Wesen der Kindheit von einer „spielbasierten“ hin zu einer „smartphonebasierten Kindheit“. Mit diesen Begriffen stellt der Wissenschaftler das freie, unbeaufsichtigte Spielen von Kindern und Jugendlichen der zeitintensiven Beschäftigung mit internetfähigen elektronischen Geräten wie Laptops, Tablets, Videospielkonsolen oder Smartphones mit Millionen von Apps gegenüber.

Junge Menschen brauchen Risiken in wirklicher Welt 

Smartphones seien „Erfahrungsblocker“: „Sobald sie ins Leben eines Kindes treten, verdrängen oder reduzieren sie alle anderen Formen nicht-bildschirmbasierter Erfahrungen, die das erfahrungssuchende Gehirn der Kinder am nötigsten braucht“, so Haidt. Ebenso halte auch die weit verbreitete „Sicherheitskultur" junge Menschen davon ab, Ängste zu überwinden, Risiken handhaben zu lernen und auf eigenen Füßen zu stehen. Nur mit dem Eingehen von Risiken in der wirklichen Welt könnten junge Menschen zu psychisch gesunden und kompetenten Erwachsenen heranwachsen.

Um eine gesündere Kindheit im digitalen Zeitalter zu gewährleisten, schlägt Haidt verschiedene Mindest-Altersgrenzen vor: 14 Jahre für das erste eigene Smartphone und 16 Jahre für den Zugang zu sozialen Medien. Schulen sollten während des kompletten Schultags inklusive der Pausen smartphone-frei sei. Vor allem aber solle Kindern mehr unüberwachtes freies Spiel und Unabhängigkeit erlaubt werden. Auch Regierungen und Tech-Unternehmen nimmt der Autor in die Pflicht. Er fordert wirksame Gesetze zum Kinderschutz in der virtuellen Welt, bessere Verfahren zur Altersverifikation sowie ein Feature, mit dem Eltern Smartphones ihrer Kinder als Geräte von Minderjährigen kennzeichnen können, die keinen Zugang zu Websites mit höherer Altersbegrenzung gewähren.


Jonathan Haidt: Generation Angst. Rowohlt, Hamburg 2024, 448 Seiten, ISBN 978-3498028367, EUR 26,–

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