Die Deutsche Bahn und der Fußball haben etwas gemeinsam: Zu beidem hat jeder Deutsche eine Meinung. Das wirkt integrierend. Wir leben ja, so ist nahezu täglich von berufenen Experten zu hören, in einer sich spaltenden Gesellschaft. Alarmistische Mahnworte sind ständig zu hören: „Wir sitzen doch alle in einem Zug.“ Verbunden mit der Sorge: „Werden wir irgendwann alle balla-balla?“
Aber wie gesagt, dank DB und DFB sind wir nicht völlig verloren in dieser krisenhaften Situation. Nichts hält nämlich die Menschen so zusammen wie gemeinsamer Hass und der gemeinsame Stolz. Die Bahn ist für den Hass zuständig: Ob Sie nun beim Vorstandsmeeting in einem Frankfurter Wolkenkratzer zu spät kommen oder beim Anti-patriarchalischen Häkelkreis in Freiburg nicht zur rechten Zeit vor ihrer Tasse Roibuschtee sitzen, Sie müssen nur einen Satz sagen: „Mein Zug hatte Verspätung.“
Die Bahn kann alles
Das reicht, denn Sie werden überall verständnisvolles Nicken ernten. Der Bahn traut man jede Fahrplan-Lumperei zu. Die vollkommene Desillusionierung gegenüber dieser ja eigentlich ehrwürdigen Institution, das ist der Kitt, der Deutschland über alle Milieus und politischen Gräben zusammenhält: Es ist die Solidarität der Leidenden.
Unsere Hoffnung zielt aber in eine andere Richtung: Wir sehnen uns nach einer Solidarität der Jubelnden. Und damit kommt der Fußball ins Spiel. Wenn die Nationalmannschaft siegt, siegen alle mit. So einfach ist die Formel. Aber weil heute irgendwie nichts mehr einfach sein darf, gilt das natürlich auch für die Freude. Am Freitag konnte ja schon ordentlich gejubelt werden. Aber es gibt jetzt den Typus des skeptischen Fans. Charakteristischer Satz: „Alles schön und gut, aber ein Sommermärchen wird es nie mehr geben.“
König Fußball regiert
Aber trotz solcher Unkereien, die Kraft des Fußballs, die Gesellschaft zusammenzukitten ist größer. Ein Beispiel: Sonntagnacht am Essener Hauptbahnhof, ein Bus hält, heraus strömt eine Horde englischer Fans, die sofort „God save the King“ anstimmt. Ob sie wirklich Charles Windsor meinen oder nicht vor allem „König Fußball“ huldigen? Der hat nämlich in diesen Stunden hier am Bahnhof das Szepter übernommen.
Überall englische Fans. Keine Taxis mehr in der ganzen Stadt, denn die Engländer müssen ja irgendwie zu ihren Unterkünften im ganzen Ruhrgebiet kommen. Es herrscht vielleicht nicht gerade der Ausnahmezustand, aber Chaos ist schon. Und wie begrüßt einen da der freundliche türkischstämmige Kiosk-Besitzer zum Zigarettenkauf: „Wie schön, endlich wieder ein Deutscher“. Tja, vielleicht wirkt Fußball ja wirklich integrierend.
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