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Wolfgang Thierse: „Jeder von uns kann Hass und Gewalt widersprechen“

Wir dürfen uns nicht an politische Gewalt gewöhnen, meint der frühere Bundestagspräsident gegenüber der "Tagespost".
Wolfgang Thierse, ehemaliger Präsident des Deutschen Bundestags
Foto: IMAGO/Rüdiger Wölk (www.imago-images.de) | Fordert Streit, aber nach Regeln der Friedlichkeit und der Fairness: der frühere Bundestagspräsident Wolfgang Thierse.

Herr Thierse, nach dem Angriff auf den SPD-Europaabgeordneten Matthias Ecke in Dresden wird wieder viel über Gewalt gegen Politiker diskutiert. Der Angriff war kein Einzelfall, derartige Übergriffe häufen sich zuletzt. Überrascht Sie das?

Nein, denn das kommunikative Klima in unserem Land ist in den letzten Jahren immer aggressiver geworden. Trotzdem erschreckt mich die Tat sehr! 

Müssen wir uns auf ein Gefahrenpotenzial für politische Amtsträger in Zukunft als "neue Normalität" einstellen? Oder waren die letzten Jahrzehnte, in denen es tätliche Angriffe gegen Volksvertreter bei uns kaum gab, nicht eher die Ausnahme? In der Weimarer Republik und auch in den Anfängen der Bundesrepublik gehörte das ja eher zum Alltag.

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Wir dürfen uns auf keinen Fall an politische Gewalt gewöhnen! Sie erinnern zurecht an die Weimarer Demokratie, deren Ende mit zunehmender politischer Gewalt begonnen hat.

Handelt es sich beim konkreten Fall des SPD-Politikers Ecke wirklich um politische Gewalt - oder liegt hier nicht eher grundsätzliche Gewaltbereitschaft bzw. wachsende Aggressivität in der Gesellschaft vor, die sich das politische Feld sucht?

Wer einen Menschen beim Aufhängen eines Wahlplakats angreift und schwer misshandelt, der tut das gezielt. Bei der wachsenden Zahl auch physischer – eben nicht mehr nur rhetorischer – Angriffe auf Menschen, die sich in und für unsere Demokratie engagieren, handelt es sich um politisch motivierte Wutausbrüche, die keine moralischen Grenzen mehr kennen.

Betroffen sind sowohl Vertreter linker Parteien wie der Grünen oder eben der SPD, aber auch AfD-Politiker. Was deuten Sie daraus, dass sich die Angriffe nicht auf ein weltanschauliches Spektrum begrenzen?

Das müssen wir uns klarmachen: Die sichtbar gewordene Gewaltbereitschaft lässt sich nicht weltanschaulich eingrenzen. Sie kann jeden treffen, der sichtbar für Demokratie und für Anstand eintritt – auch Menschen, die ihre religiöse Überzeugung öffentlich zeigen.

"Die sichtbar gewordene Gewaltbereitschaft
lässt sich nicht weltanschaulich eingrenzen.
Sie kann jeden treffen, der sichtbar
für Demokratie und für Anstand eintritt"

Wie kann man den politischen Streit wieder von der Straße holen und in den Bundestag transportieren, wo er eigentlich stattfinden sollte?

Nötig, ja überlebensnotwendig ist die Solidarität aller Demokraten überhaupt aller anständigen Menschen – nicht nur nach solchen Schreckenstaten, nicht nur an Feiertagen, sondern im alltäglichen Leben. Jeder von uns kann Hass und Gewalt widersprechen und widerstehen!

Kann der Parlamentarismus den politischen Streit heute überhaupt noch befrieden?

Das genau ist Demokratie: Streit und zwar nach Regeln der Friedlichkeit und der Fairness. Der Ort dafür sind die Parlamente auf allen Ebenen unserer Demokratie. Aber auch die Medien sollen und müssen Orte fairen Streits sein. Das ist das Gegenteil dessen, was gegenwärtig in den „asozialen“ Medien stattfindet

Mit Blick auf ein erodierendes Diskursklima und Hetze im Netz: Wo fängt Ihrer Meinung nach Gewalt gegen Politiker überhaupt an?

Gewalt fängt da an, wo statt Kritik an einer Problemlösung oder Meinung Hass formuliert wird gegen Personen, Menschengruppen, ja die Demokratie insgesamt. Im Netz werden die Echoräume von Vorurteilen und Hass so zu dem Boden, wo aus rhetorischer Gewalt dann physische Gewalt wachsen kann.

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