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Das Eichsfeld: Mikrokosmos der deutschen Einheit

Im Eichsfeld können Besucher gleichermaßen die Geschichte der deutschen Teilung erleben und der katholischen Prägung einer Erfolgsregion nachspüren.
Ehemalige Grenzbefestigungsanlage mit Kolonnenweg
Foto: imageBROKER/Roland Marske via www.imago-images.de (www.imago-images.de) | Heute sieht sie ganz friedlich aus: die alte Grenze in der Grünen Mitte Deutschlands, hier auf dem Gebiet des Grenzlandmuseums Eichsfeld.

Zugegeben, Tunnel sind nicht jedermanns Sache. Sie sind dunkel, eng und oft gibt es dort nur eingeschränkten Radioempfang. Doch Tunnel haben auch etwas Verbindendes. Sie bringen Menschen und Regionen zusammen, die durch hohe Zäune und Mauern voneinander getrennt waren. Ein solches Verbindungsstück ist der Heidkopftunnel, auch „Tunnel der deutschen Einheit“ genannt, auf der Südharzautobahn zwischen Göttingen und dem Heilbad Heiligenstadt in Thüringen. Heiligenstadt gilt als heimliche Hauptstadt des Eichsfeldes, der Heidkopftunnel als Zeugnis zeitgenössischer Ingenieurskunst. Ohne Zweifel ist der gut ausgebaute Tunnel, der nach der Wende unter dem Label „Aufbau Ost“ finanziert wurde, heute eine der modernsten und sichersten Verkehrsdurchgangsstrecken in Europa.

Die offiziellen Vereinigungsfeierlichkeiten zum 3. Oktober finden turnusmäßig in einer der 16 Landeshauptstädte statt. Doch passender wäre es, das Gedenken an die deutsche Wiedervereinigung in ehemals grenznahe Orte zu verlegen, die während der deutschen Teilung entweder als „Zonenrandgebiete“ auf der westdeutschen Seite unter der geographischen Lage wirtschaftlich litten – oder auf ostdeutscher Seite gar gezielt entvölkert wurden, um das Sperrgebiet vor der Grenze zu errichten.

Alltagsrealität Gedankenpolizei

Geschichtsinteressierte können in der historischen Region Eichsfeld, die, in der Mitte Deutschlands gelegen, von der Grenze in einen west- und einen ostdeutschen Teil geteilt wurde, auf spannende Weise nachvollziehen, wie sich das Leben an der innerdeutschen Grenze angefühlt haben muss.

Vom pittoresken Heiligenstadt betrug die Fahrzeit zur innerdeutschen Grenze nur wenige Autominuten. Das heutige Heilbad befand sich zu DDR-Zeiten unweit des sieben Kilometer breiten Sperrgürtels, den nur ausgewählte Personen mit Sondergenehmigung betreten durften. Damals war die Kleinstadt auch Sitz einer Kreisdienststelle des Ministeriums für Staatssicherheit, der „Stasi“. Für einen Westdeutschen dürfte allein schon der Gedanke abstrus sein, in jeder Kreisstadt könnte sich eine Filiale des Bundesamts für Verfassungsschutz, dem Inlandsgeheimdienst der Bundesrepublik, befinden, zudem noch mit regelmäßigen Kontakten zu Betrieben, Behörden und Schulen. In Heiligenstadt, wie das ganze Eichsfeld bis heute katholisch geprägt, überwachte die Staatssicherheit gar die hier immerhin erlaubte Palmsonntagsprozession – die im Übrigen nach wie vor jährlich tausende Besucher anzieht.

Für DDR-Bürger hingegen war es ein Stück Alltagsrealität, eine im Verborgenen arbeitende „Gedankenpolizei“, die sich allein für ihr politisches Denken interessierte, vor der Haustür zu haben. „In Heiligenstadt befand sich die Stasi-Kreisdienststelle in der Aegidienstraße, am südlichen Stadtende, wo heute ein Sozialdienst ist“, sagt Hans-Gerd Adler, Diplom-Ingenieur im Ruhestand und Chronist der deutsch-deutschen Geschichte im Eichsfeld. „Unweit der Stasizentrale stand früher das Gebäude der SED-Kreisleitung“, erklärt der ortskundige Rentner. Noch immer steht vor dem Gebäude ein Glaskasten aus DDR-Zeiten. Wo früher Meldungen über Prämien an „Helden der Arbeit“ und „Planübererfüllungen“ prangten, informiert heute die örtliche Volkshochschule über ihr laufendes Programm. Die nach der Wende aufwändig renovierten Villen aus der Gründerzeit zeigen die gehobene Wohnlage, in der die lokale Parteiprominenz einst residierte.

Broiler, Bier und scharfe Soßen

Adler ist auch Pressesprecher des Grenzmuseums Schifflersgrund, das alljährlich tausende Besucher aus der ganzen Welt anlockt. Eine sehenswerte Dauerausstellung dokumentiert den früheren Grenzverlauf. Etwas deplatziert wirken die alten russischen Militärjeeps, ausrangierte Hubschrauber der US-Armee und der nachgebaute Funkmast, die nur indirekt etwas mit der deutschen Teilung zu tun hatten. Sie wirken wie willkürlich in die Landschaft gestellt. „Hier kommen auch viele Oldtimerfreunde vorbei“, erklärt uns die Verkäuferin im nahe gelegenen Kiosk, wo auch allerlei Kitschkram, Wimpel, Spazierstöcke, Bierkrüge und Anstecknadeln mit Motiven aus dem Thüringer Wald zu haben sind. Einst gehörten Gebäude, Zaunreste und der Turm zu einem unbarmherzigen Grenzregime. Ein Arbeiter wurde bei Schifflersgrund im März 1982 bei einem Fluchtversuch durch Schüsse der diensthabenden Grenzer getötet. Die Täter wurden nach der Wende wegen „Befehlsnotstand“ nur zu Bewährungsstrafen verurteilt. Heutzutage verkaufen an der Stelle geschäftstüchtige Gastronomen Broiler, Bier und scharfe Soßen. Regelmäßig kommen Busladungen geschichtsinteressierter Touristen, die auch das Einkommen des örtlichen Hotel- und Gastgewerbes garantieren.

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Bis heute ist das Eichsfeld eine katholische Enklave im überwiegend atheistisch geprägten Osten der Bundesrepublik. Und wie kaum eine andere Region ist sie ein Mikrokosmos im Vereinigungsprozess. Bis heute spielt das Eichsfeld eine Sonderrolle auf der religionspolitischen Landkarte des wiedervereinten Deutschlands. Wer den knapp zwei Kilometer langen Heidkopftunnel durchquert hat, der spürt nach wenigen Autominuten auf Thüringer Seite: Das Katholische hat hier, „auf dem Eichsfeld“, tiefe Spuren hinterlassen. Kapellen, Klöster und Marienstatuen säumen Straßen und Dörfer in der sanft hügeligen Landschaft. Auch junge Leute gehen hier sonntags in die Kirche, als Pärchen, in der Gruppe oder mit den eigenen, teils zahlreichen Kindern. Der katholische Glaube verbindet die Menschen in diesem Landstrich, der auch Teile Hessens umfasst, wie fast nirgendwo sonst in der Bundesrepublik.

Als exterritoriales Gebiet des Fürstbistums Mainz, dessen Wagenrad das Eichsfeld von jeher im Wappen führt, profitierte die Region nach dem Mauerfall von ihrer engen, historischen Bindung an die Pfalz. Als „Westimport“ aus Rheinland-Pfalz legte ab 1990 Bernhard Vogel in seiner Funktion als CDU-Regierungschef in Erfurt die Grundlagen für ein wirtschaftliches Wiedererstarken in der Mitte Europas. Und ohne sein Wirken wäre wohl auch der „Tunnel der deutschen Einheit“ nur ein Traum geblieben. Das Ergebnis: Fast nirgendwo scheint die Einheit Deutschlands gelungener als hier. Glaube versetzt offenbar nicht nur Berge. Er schüttet auch Gräben zu, baut Brücken und schafft tragfähige Fundamente für die Zukunft.

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