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Die ganze Fußballwelt steht Kopf

Welch emotionale Spannbreite ein Spielausgang haben kann, zeigt sich, wenn man die Kommentierung des Finales von 1954 in der BRD, der DDR und Ungarn vergleicht.
EM 2024: Deutschland - Schottland
Foto: IMAGO/osnapix / Hirnschal (www.imago-images.de) | So will man sie auch im Spiel gegen Ungarn wieder jubeln sehen: Die Jungstars Florian Wirtz und Jamal Musiala nach dem Treffer zum 1:0.

Heute Abend, 18 Uhr: der Klassiker – Deutschland gegen Ungarn. Vor fast genau 70 Jahren, am 20. Juni 1954, verlor Deutschland gegen Ungarn das Gruppenspiel bei der Fußball-Weltmeisterschaft in der Schweiz mit 3:8. Nur, um dann zwei Wochen später das Endspiel zu gewinnen, mit 3:2. So kann's gehen. Das letzte Aufeinandertreffen gewannen allerdings die Ungarn – am 23. September 2022 setzten sich die „Puszta-Söhne“ (Herbert Zimmermann) im Berliner Olympiastadion mit 1:0 durch, in einer Partie der eher bedeutungsarmen „Nations League“.

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Noch einmal der Blick zurück auf das „Wunder von Bern“. Welch emotionale Spannbreite ein Spielausgang haben kann, zeigt sich, wenn man die letzten Sätze der Rundfunkübertragung in der Bundesrepublik, der DDR und Ungarn vergleicht.

Auf einer Stufe mit dem Nibelungenlied und dem Erlkönig

Herbert Zimmermanns Kommentar kennt wohl jede und jeder auswendig: „Aus, aus, aus – aus! – Das Spiel ist aus! – Deutschland ist Weltmeister! Schlägt Ungarn mit drei zu zwo Toren im Finale in Bern“. Das steht mit dem Nibelungenlied, dem Erlkönig und „An die Freude“ auf einer literaturhistorischen Bedeutungsebene. Was dem Angelsachsen Shakespeares „To be or not to be“ ist, ist uns Zimmermanns „Aus, aus, aus – aus!“.

Sportjournalist Wolfgang Hempel fasst für den Rundfunk der DDR die Ereignisse wie folgt zusammen: „Der Schlusspfiff. Schlusspfiff. Schlusspfiff im Berner Wankdorf-Stadion. Das Unvorstellbare ist passiert. Die westdeutsche Nationalmannschaft wird Fußball-Weltmeister 1954 im Endspiel gegen Ungarn. Die ganze Fußballwelt steht auf dem Kopf. Die westdeutschen Spieler liegen sich natürlich in den Armen. Die Ungarn sind großartige Verlierer, sie gratulieren den westdeutschen Spielern“. Der große Unterschied zwischen den beiden, kurz zuvor gegründeten deutschen Staaten war also der zwischen „Aus, aus, aus“ und „Schlusspfiff, Schlusspfiff, Schlusspfiff“. So kann man sich das merken.

Und die großartigen Verlierer? Der ungarische Fußballkommentator György Szepesi, der als „12. Spieler der Goldenen Elf“ die Mannschaft um Puskás, Hidegkuti und Bozsik bei ihrem Siegeszug begleitet hatte (vor dem 4. Juli 1954 war Ungarn in 32 Pflichtspielen in Serie unbesiegt geblieben), schloss schlicht und ergreifend: „Ende des Spiels. Weltmeister ist Westdeutschlands Mannschaft. Vier Jahre waren wir ungeschlagen. Jetzt haben wir verloren. Das ist keine Tragödie, meine Hörer. Es ist eine Niederlage im Fußball.“ Wie wahr.

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Josef Bordat EM2024

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