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VAR da was?

Der VAR – zu deutsch: Video Assistant Referee – ist im Fußball das, was in Realität und Politik der Große Bruder ist. Damit stellt sich die Frage: Wann ist ein Tor ein Tor?
Videoscreen VAR
Foto: IMAGO/Markus Fischer (www.imago-images.de) | Es ist egal, ob der Große Bruder existiert. Sagt der VAR, dass es kein Tor war, dann war es kein Tor.

Ich habe mir im Laufe meines Lebens ein paar Dinge abgewöhnt. Daumenlutschen etwa. Grönemeyer hören. Berliner Busfahrpläne ernst nehmen. Übermäßigen Fleischkonsum. Übermäßigen Gemüsekonsum. Texte, die ich kommentiere, zuvor auch noch extra zu lesen. Kettenbriefe aufsetzen. Mit Sachbotschaften versehene und über soziale Medien an mich herangetragenene Fotografien auf epistemische Kohärenz zu prüfen. Kettenbriefe weiterleiten. Und so fort. Man wird eben alt.

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Die jüngste Errungenschaft der rationalen Selbstdisziplinierung im Zuge fortgeschrittener Seniorität betrifft den Fußballsport. Schaue ich die Spiele der Europameisterschaft, gibt es für mich keinen Torjubel mehr. Konnte ich mich früher beherzt freuen, ist die Reaktion auf einen Treffer heute eher nüchtern. Motto: AbVARten. Zählt VARscheinlich eh nicht. VAR gestern ja auch so.

Der Große Bruder

Für alle, die trotz diverser Sommermärchen gegen das Fußball-Virus immun sind: Der VAR – zu deutsch: Video Assistant Referee – „soll im Fußball auf Fehlentscheidungen des Schiedsrichters hinweisen. Dazu sitzt er fernab vom Spielfeld im Video Assist Center (VAC). Er schaut sich strittige Entscheidungen des leitenden Schiedsrichters auf einem Fernseher in der Wiederholung und gegebenenfalls in Zeitlupe an und teilt diesem per Funk seine Sicht der Dinge mit“ (Wikipedia).

Kurz gesagt: Der VAR ist so etwas wie der Große Bruder, der alles sieht, auch wenn es scheinbar im Verborgenen stattfindet. Das magische Auge, dem nichts entgeht. Kein noch so lächerliches Handspiel, keine Millimeter-Abseitsstellung, kein zärtliches Trikotzupfen. Alles, was der VARnehmungsschwäche des menschlichen Auges entgeht (und damit sogar dem Schiedsrichter), kann Big Brother am Bildschirm mit Superzeitlupe, Standbild, 360-Grad-Umsicht, Draufsicht, Querschnitt und Grundriss erkennen.

Tor oder kein Tor

Bevor nicht der VAR sein Urteil sprach, ist kein Tor ein Tor. Kein Tor für Belgien (gegen die Slowakei), auch nicht, wenn Lukaku gleich zweimal trifft. Kein Tor für Portugal (gegen Tschechien), auch nicht, wenn Cristiano beteiligt ist. Kein Tor für Andrich. Ergo: Ich bleibe cool. Will ja kein Tor sein. Gejubelt haben und dann – ätsch, Entscheidung revidiert: Tor zählt nicht! Drei Pässe zuvor ist der Ball im Seiten-Aus gewesen. Der Seismograph zeigt auffällige Handbewegungen. Jemand auf der Ehrentribüne hat sein Ticket bezahlt. Irgendwas ist immer.

Nein, nein. Da kann ruhig ein Füllkrug oder Musiala von der Mittellinie in den Winkel treffen, ein Schuss wie ein Strich, das Stadion tobt. Ich denke nur: Lass ihn erst mal schaun, im Leipziger Keller. Was denn – Tor zählt? Zu schön, um VAR zu sein!

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