Die Arenen als sakrale Räume, Verehrungs-Rituale auf den Rängen, der sprichwörtliche „Heilige Rasen“ als Austragungsgort kultischer Handlungen: von den weihevollen Eröffnungszeremonien zu Beginn bis zur Danksagung der Mannschaft vor dem Fanblock erinnern auch die Spiele der Fußball-Europameisterschaft stark an religiös-liturgische Riten.
Rudolf Otto, der als Vater der Religionswissenschaften gilt, sah den Kern aller Frömmigkeit in diesem unaussprechlichen Geheimnis, welches den Menschen zugleich mit Furcht, Zittern und die Seele erhebender Anbetung erfüllt. Auf gut lateinisch: Mysterium tremendum et fascinosum.
Ins Religiöse gewendeter Bedeutungsüberschuss der Fankultur
Es ist auffällig, dass die Gegenwart der religiösen Idee aus dem Geist der Anbetung von der Kirche auf den Fußballplatz gewandert ist. Während die Stadien von München bis Berlin zur EM aus allen Nähten platzen, platzt mitten in die feierselige Fußballstimmung die Nachricht von den aktuellen Austrittszahlen der katholischen Kirche. Der heilige Schauer mit Weihrauch und Orgelklang ist der Gänsehaut mit Pyro und Hymnen gewichen. Die Fans spüren den ins Religiöse gewendeten Bedeutungsüberschuss ihrer Fankultur. Erklären könnten sie ihn wohl nicht. Es ist ein Geheimnis, welches die eigentliche Kraft entfaltet. Das Kreuz ist Ball geworden.
Noch für den Philosophen Mircea Eliade bildeten „das Heilige und das Profane“ die „zwei existentiellen Situationen, die der Mensch im Laufe seiner Geschichte ausgebildet hat“. Modernität setzt der Religionssoziologe dabei gleich mit Profanität, das Sakrale dagegen gehört für ihn zum Bestand archaischer Kultur. Doch schon Eliade registrierte, dass Elemente archaischer Religiosität auch das Denken und Verhalten areligiöser Intellektueller ausmachen. Das gilt gerade auch für unsere Zeit. Manche politische Weltanschauung kommt mit religiöser Überhöhung ihrer Ziele daher. Den Fußball hatte Eliade noch nicht auf dem Schirm, gleichwohl sind seine Erkenntnisse übertragbar.
Das Profane und das Religiöse konvergieren
Weiter gedacht ins Heute: Das Profane und das Religiöse konvergieren. Es ist ein Kennzeichen unserer Zeit, dass die Sehnsucht der Menschen nach Sakralität und Transzendenz neue Ausdrucksformen gefunden hat. Explizit Weltliches erfährt religiöse Aufladung.
Unter dem Berliner Olympiastadion befindet sich die wohl schönste Stadionkapelle der Welt, ein goldgetäfeltes Kleinod an einem Ort, der einmal als heidnische Weihestätte des Sports zu den Olympischen Spielen 1936 errichtet wurde. Regelmäßig finden dort Andachten statt, auch kann man hier heiraten. Vielleicht funktioniert die beschriebene Konvergenz ja auch andersherum.
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