Weder Israel noch die Hisbollah sollten an einer Eskalation ihres seit Monaten währenden Kleinkriegs interessiert sein, aber beide Seiten machen geradezu demonstrativ klar, dass sie genau dazu bereit sind. Es sind hochgefährliche Muskelspiele, die da zwischen Israels Premierminister Benjamin Netanjahu und Hisbollah-Führer Hassan Nasrallah ausgetragen werden. Da genügt ein Funke, ja ein Missverständnis, um einen Flächenbrand auszulösen.
Israel kann seinen Bürgern im Norden längst keine Sicherheit mehr garantieren; 150.000 Menschen wurden aus der Gefahrenzone evakuiert. Die kanadische Außenministerin Mélanie Joly hat ihre Landsleute heute zum Verlassen des Libanon aufgefordert. Nicht nur Deutschlands Außenministerin Annalena Baerbock, die eben in der Region unterwegs war, warnt vor einer „regionalen Eskalation, mit Ausmaßen, die wir uns alle kaum vorstellen können“.
Dem Libanon droht die Zerstörung
Auch US-Verteidigungsminister Lloyd Austin zeigt sich alarmiert: „Ein weiterer Krieg zwischen Israel und der Hisbollah könnte sich leicht zu einem regionalen Krieg mit schrecklichen Folgen für den Nahen Osten ausweiten.“ Das ist keineswegs übertrieben. Die hochgerüstete Hisbollah könnte mit ihren Raketen Israels „Iron Dome“ gezielt überfordern und so ein Blutbad anrichten, das den 7. Oktober 2023 in den Schatten stellt. Umgekehrt würde ein umfassender Krieg Israels gegen die Hisbollah nicht etwa, wie der israelische Außenminister Katz meint, die Hisbollah zerstören und den Libanon schwer treffen, sondern – umgekehrt – den Libanon zerstören.
Der Libanon, einst gegründet als einziges arabisches Land mit christlicher Mehrheit, ist bereits jetzt ein gescheiterter Staat. Schuld daran sind äußere Interventionen sowie Korruption im Inneren. Wenn das Land der Zedern neuerlich zum Kriegsgebiet wird, ist es um diesen maroden, fragilen Staat geschehen. Die Hisbollah dagegen würde in Syrien, im Irak und im Iran Rückzugsräume finden und ihre Terrorarbeit fortsetzen.
Mit Zypern würde die EU attackiert
Doch die Gefahren sind noch weit größer, denn die Hisbollah müsste im Kriegsfall auf eine regionale Ausweitung der Krise zielen: Nasrallah drohte deshalb bereits, das EU-Mitgliedsland Zypern als Kriegspartei zu behandeln, falls die Inselrepublik den Israelis seine Häfen und Flughäfen zur Verfügung stellen sollte. Zypern ringt zwar um eine neutrale Rolle und sieht sich selbst als „Stütze für Stabilität und Frieden in der Region“, doch der südöstlichste Zipfel der EU war und ist nun einmal die Brücke zwischen Europa und dem Orient.
Wenn Zypern – vorsätzlich, fahrlässig oder auch nur zufällig – attackiert wird, dann wird die gesamte Europäische Union aufgrund ihrer vertraglichen Beistandsverpflichtung in den Nahostkrieg hineingezogen. Der Iran als Pate und Protektor der Hisbollah würde dann gewiss nicht mehr tatenlos zusehen, sondern seiner anti-westlichen und anti-israelischen Rhetorik blutige Taten folgen lassen.
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